Die Geretteten auf
dem Schiff von Ärzte ohne Grenzen stammen ausnahmslos aus
afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Paola Mazzoni (Ärzte
ohne Grenzen): „Wenn sie die Wahl haben entweder in Afrika oder
in Europa wie Sklaven zu leben, so sind sie es noch lieber in Europa,
wo sie wenigstens ein paar Rechte haben.“
Quelle: Redattore Sociale
Es ist bereits die
x-te Ankunft von über 600 Geflüchteten, am Pier Santa Lucia im
Hafen von Palermo, gerettet von dem Schiff Bourbon Argos der
Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Die Ankömmlinge sind alle
sehr müde, jedoch fast alle in gutem gesundheitlichem Zustand.
Ursprünglich stammen sie aus Nigeria, der Elfenbeinküste, dem Sudan
und dem Senegal, die am vergangenen Donnerstag an der libyschen
Küste in die Boote gestiegen sind. Gerettet wurden sie am Freitag
Morgen von Handelsschiffen, bevor sie in der Nacht auf die Bourbon
Argos umsteigen konnten. Im Hafen selbst koordiniert die Präfektur
sämtliche Vorgänge. Freiwillige der Caritas, Comboni-Missionare,
der Katastrophenschutz, das Rote Kreuz, Sanitäter, Psychologen der
Regionalen Gesundheitsbehörde sowie Ordnungskräfte leisteten erste
Hilfe und verteilten Kleidungsstücke, Essen und Trinken an die
Geflüchteten. Anwesend war auch der Polizeipräsident und Stadtrat
für Sozialpolitik Agnese Ciulla.
In diesem Fall
handelt es sich um 500 Männer und 73 Frauen, von denen 15 schwanger
sind, ca. 50 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sowie zehn
Kinder unter fünf Jahren. Der Großteil von ihnen wird in andere
Regionen Italiens gebracht werden. Ca. 200 von ihnen werden jedoch
nach ihrer ersten Identifizierung im Polizeipräsidium im Hafen
bleiben müssen und darauf warten, dass ein Bus sie in die Zentren,
für die sie bestimmt sind, bringt.
Auf dem
Rettungsschiff empfing und kümmerte sich ein Team von Ärzte ohne
Grenzen um die Geflüchteten, das erneut auf die dramatischen
Bedingungen hinwies, vor denen die Geflüchteten in Libyen fliehen
müssen. „Leider sind unter den Härtefällen, von denen uns
erzählt wird, immer wieder Fälle junger Mädchen, die von ihren
Familien losgerissen wurden und Opfer sexueller Gewalt wurden oder
auch jungen Männern, die geschlagen wurden.“, erzählt uns Paola
Mazzoni, pensionierte Anästhesistin und Ärztin an Bord der „Bourbon
Argos“, dem Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen. „Wir
kümmern uns um Menschen, die oft monatelang unter Hunger, Kälte
oder unter physischer und psychischer Gewalt gelitten haben und in
den libyschen Gefangenenlagern wie Sklaven behandelt wurden. Schon in
ein Boot zu steigen ist eine riskante Sache, die bei vielen häufig
mit dem Tod endet, doch sogar diese Gefahr nehmen sie auf sich,
lediglich um Libyen zu entfliehen, ein Land in dem ihr Leben nichts
wert ist. Wenn sie sich entscheiden können wie Sklaven in Libyen zu
leben oder in Europa, so sagen sie kommen sie noch lieber nach
Europa, wo sie zumindest ein Minimum an Rechten haben. Als wir sie
retten, danken sie uns, beten und umarmen uns. Es sind sehr
emotionale Momente und ich wünsche jedem, dass er diese Momente
einmal miterlebt, trotz der für uns körperlich sehr anstrengenden
Arbeit. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass es Menschen
wie du und ich sind, die hier ankommen. Menschen, die Hoffnungen
haben und die wie neugeboren wirken, wenn sie nach langer Überfahrt
endlich unsere Küsten erreichen. Ärzte ohne Grenzen fordert
Europa daher auf, nicht die Augen vor diesem Problem zu verschließen,
sondern vielmehr mögliche Lösungen zu suchen – Lösungen, die die
Rechte dieser Menschen respektieren und stärken.
„Von 600 Personen
haben wir ca. 300 auf dem Schiff untersucht“, berichtet die Ärztin
von Ärzte ohne Grenzen. „Es handelt sich hauptsächlich um
stark unterernährte Personen oder Geflüchtete, die aufgrund der
Kälte an Unterkühlung leiden, und daher psychisch und physisch sehr
angegriffen sind. Viele haben zudem einen niedrigen
Blutzuckerspiegel, der bei anderen Rettungen in vielen Fällen zu
einem Koma aufgrund von Unterzuckerung geführt hat“. Das Team von
Ärzte ohne Grenzen hat an Bord eine erste Form der
psychologischen Betreuung eingeführt. Diese wird von speziell
ausgebildetem Personal übernommen, das zunächst versucht, Vertrauen
wiederherzustellen und Trost zu spenden. Ziel dieser ersten
psychologischen Betreuung ist es vor allem das Stresslevel der Gruppe
zu senken.
An Bord des Schiffes
befindet sich zudem der interkulturelle Mediator Ahmad Alrousan, der
letztes Jahr zum Ehrenbürger von Orlando ernannt wurde. „Was wir
mit Sicherheit feststellen können ist, dass die Gewalt in Libyen
zugenommen hat, das sehen wir an den offenen und blutigen Wunden, die
die Geflüchteten haben. Sie erzählen uns oft, dass sie während
ihrer Zeit in den libyschen Auffanglagern geschlagen wurden und
überhaupt keine Rechte hatten. Die Lager, in denen die Geflüchteten
unter schlimmsten Bedingungen hausen müssen und nur auf den Tag
ihrer Abfahrt warten, sind meistens einfache Gehöfte in den
Peripherien der Städte. Oftmals haben sie zuvor bereits für ihre
Reise nach Europa zahlen müssen. In den Lagern selbst werden sie
nicht selten entmenschlicht und schlichtweg mundtot gemacht, denn
jedes Mal, wenn sie nach etwas fragen, werden sie geschlagen. Als wir
sie aufnehmen wird ihre Stimme zum ersten Mal wieder gehört – ein
Recht das ihnen zuvor verwehrt blieb. Leider sind unter den
Geflüchteten auch viele Minderjährige und junge Mädchen, die
höchstwahrscheinlich Opfer körperlicher Gewalt sind. All diese
Informationen werden registriert, obgleich das größte Interesse der
Politiker heutzutage immer noch darin besteht, die Ankünfte der
Migrant*innen zu stoppen. Auf diese Weise gibt Europa sein
Grundprinzip der Solidarität und der vollen Anerkennung der
Menschenrechte quasi auf.“ „Auf dem Schiff gäbe es auch lustige
Momente, wenn beispielsweise mit den Kindern gespielt wird,“
erzählt er weiter, „oder wenn Real Madrid ein Spiel gewonnen hat
und die Freude danach groß ist. Es sind Personen, die trotz der
Dinge, die sie durchmachen mussten, immer noch große Lust haben,
sich wieder zu fangen, indem sie ihr Leben wieder in die Hand nehmen
und versuchen unserem Land etwas zurückzugeben“.
Unter den
freiwilligen Helfern, die heute am Hafen anwesend sind, befindet sich
auch der vorsitzende Pater der Comboni-Missionare, der Äthiopier
Tesfaye Tadesse. „Die Ankunft der vielen Menschen berührt unsere
Herzen natürlich sehr“, sagt er uns. „Zu sehen wie meine
afrikanischen Brüder und darunter auch junge Frauen mit Kindern und
Schwangere ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, zeigt zwar einerseits
ihren Mut, andererseits jedoch auch die Mängel in unserer
Gesellschaft, die ihr Verhalten und ihre Beziehung zu diesen Menschen
komplett ändern muss. In Palermo wie auch in anderen Orten Italiens
lerne ich immer wieder großzügige Menschen kennen, die Geflüchtete
mit offenen Armen empfangen. Sehr präsent in der Stadt sind meiner
Meinung nach vor allem die Comboni-Missionare. Sicherlich wird eine
Antwort Italiens jedoch alleine nicht ausreichen. Vielmehr brauchen
wir auch die anderen europäischen und manche afrikanischen Länder.
Europa und Afrika müssen gemeinsam klare Antworten geben. Nur so
kann besser mit Fluchtgründen wie Krieg und Armut umgegangen werden,
die die Menschen zwingen ihre Heimat zu verlassen.“
Heikel sind vor allem Fälle von unbegleiteten minderjährigen
Geflüchteten. „Das größte Problem, wie wir immer wieder betont
haben“ – bestätigt Judith Gleitze von Borderline Sicilia
– ist es, wenn Minderjährige sich als volljährig ausgeben, es
jedoch keine Papiere gibt, die das belegen. Dies führt dazu, dass
die Zahl der Minderjährigen auf dem Papier oftmals deutlich geringer
ist als die anfänglich veröffentlichten Zahlen der anwesenden
Minderjährigen. Zudem enden Einige, die sich als volljährig
ausgeben, immer wieder in außerordentlichen Aufnahmezentren, in
denen sie unzähligen Gefahren ausgesetzt sind. Das alles sollte
einerseits für ihr Wohlsein vermieden werden, andererseits, um das
hohe Risiko Schleppern jeglicher Art ausgeliefert zu sein, zu
minimieren.“ „Was das Thema der Immigration generell betrifft, so
verschließen weiterhin viele europäische Länder ihre Türen für
die Migrant*innen. Auch das Relocation-Programm konnte bisher nicht
wie geplant umgesetzt werden, so wurden nur sehr wenige Geflüchtete
umgesiedelt.“ Das ganze System müsste von Grund auf erneuert
werden. Stattdessen sind wir weiterhin damit beschäftigt unsere
europäischen Regierungen aufzufordern, es nicht weiter hinzunehmen,
dass Menschen unter solchen Bedingungen zu uns kommen und dabei ihr
Leben auf offenem Meer aufs Spiel setzen, ohne dabei überhaupt
ernsthaft über eine menschenwürdigere Form der legalen Einreise
nachzudenken.“ (set)
Aus dem
Italienischen von Marlene Berninger