Foto: Lucia Borghi |
Die Rettungsarbeiten und Hilfeleistungen im Mittelmeer wurden von Ärzte ohne Grenzen übernommen, die in Kürze zusätzliche Rettungsschiffe einsetzen werden. Endlich eine konkrete Aktion für die unmittelbare Rettung für Tausende von Migrant*innen, die weiterhin ihr Leben auf See gefährden, während unsereins noch auf Migrationspolitiken wartet, die Geflüchteten einen sicheren und legalen Zugang ermöglicht. Jedoch werden wir weiterhin mit leeren Worte und symbolischen, dem Image nutzenden Gesten abgespeist. Die in Pozzallo angekommenen Migrant*innen sind größtenteils aus Somalia, Eritrea und Äthiopien. Unter ihnen sind 80 Frauen, davon sechs Schwangere, und zahlreiche kleine Kinder. Zudem befinden sich 23 unbegleitete Minderjährige an Bord. Auf dem Rettungsschiff haben sie die erste medizinische Versorgung erhalten, sie konnten sich dank des Austauschs auf Augenhöhe mit Mitmenschen beruhigen, ohne als potentielle Befragte oder Zeug*innen für die Ermittlungen zu gelten, was auf anderen Schiffen der Fall ist. Ein Beispiel für eine gelungene, würdige Aufnahme, die oft stark kontrastiert mit dem, was die Migrant*innen nach der Anlandung erleben.
Bei der Ankunft am Hafen bläst den Migrant*innen ein kalter, heftiger Wind ins Gesicht, der den ganzen Morgen über die Molen fegt. Sobald sie das Festland betreten, werden sie von einem Krankenwagen aufgehalten, um Fotos für die Spurensicherung zu schießen. Die verschiedenen, individuellen Befragungen durch Frontex- und Polizeipersonal finden draußen im Wind statt und können jeweils über zehn Minuten andauern. Wer nicht ins Krankenhaus gebracht wird oder von der Polizei auf der Mole festgehalten, wird durchsucht und darf anschließend in die Busse steigen, die später von Save the Children eingeholt werden. Auf den Bussen leistet das Flüchtlingskommissariat der UN (UNHCR) Informationsarbeit während der kurzen Fahrt Richtung Hotspot. Das Team von Emergency hat die medizinische Versorgung an der Anlegestelle unterstützt und außerhalb des Aufnahmezentrums ungefähr 100 Migrant*innen betreut, denen eine unmittelbare Verlegung zu den Hotspots in Trapani und in Taranto bevorstand. Für alle anderen Geflüchteten ist das Ziel der Hotspot von Pozzallo, dessen Leitung zur Zeit noch der Cooperativa Azione Sociale mit einer Verlängerung bis zum 24. Mai in Auftrag gegeben wurde.
Um Einiges komplizierter gestaltete sich die Ankunft der 366 Migrant*innen, die an Bord der Dattilo der Küstenwache zum Hafen von Augusta gebracht wurden. Auf drei verschiedenen Booten von Libyen kommend, wurden sie geborgen. Aufgrund des starken Windes und der schlechten Bedingungen auf offener See, mussten die Geflüchteten, bevor sie am Vormittag des 27. April im Hafen anlegen konnten, 24 Stunden außerhalb des Hafenbereiches verharren. Am Vorabend wurden 13 von ihnen aufgrund ihrer körperlich schlechten Verfassung und wegen Erfrierungserscheinungen auf einem Wachboot an Land gebracht, um dort medizinische Erstversorgung zu erhalten. Am darauffolgenden Morgen wurden sie dann in die am Hafen errichtete Zeltstadt gebracht um weitere Betreuung von Emergency zu erhalten und sich dem Identifizierungsverfahren zu unterziehen. Während wir auf unsere Zutrittsbefugnis für den Ankunftsbereich warten, treffen wir beim Eingangsbereich acht von ihnen. Im Gegensatz zu dem, was seit zwei Jahren gang und gebe ist, gestattet uns zu diesem Anlass die Präfektur nach ganzen drei Stunden Wartezeit den Zugang, als die letzten Migrant*innen von der Polizei zur Zeltstadt geführt werden.
In kleinen Gruppen, in Reih und Glied und stillschweigend werden die in Thermodecken gehüllten Geflüchteten zum asphaltierten Zeltplatz gebracht, um dort von Ordnungskräften und Frontexpersonal befragt zu werden. Diese Szene erinnert mehr an die Überführung gefährlicher Krimineller als an das Verfahren einer Erstaufnahme geflüchteter Migrant*innen, die dem libyschen Inferno und dem Tod auf offener See entronnen sind. Bedauerlich bleibt, dass der größte Teil aller Akteur*innen die Kräfte darauf verwendet, die eben beschriebenen Umgangsformen als „Aufnahme“ zu bezeichnen und die Ankunft von Menschen auf der Suche nach einer Zukunft als „Problem“ zu sehen.
Wir wechseln einige Worte mit Geflüchteten, die darauf warten im Notfallbus von Emergency untersucht zu werden. Viele von ihnen verstehen erst jetzt, wo sie gestrandet sind und sie beginnen sich Gedanken zu machen, was sie wohl erwarten wird. Ein Junge aus der Elfenbeinküste erzählt uns in aller Kürze, wie er Hals über Kopf gezwungen wurde aus seinem Land zu flüchten und wie er alles zurücklassen musste. Gerne hätte er es so gemacht wie sein Bruder, der ein Studienstipendium in Kanada gewonnen hat. Doch er meint: „Bei uns Zuhause kann man sich nicht so frei bewegen wie hier. In unserem Land gibt es nur Zensur, Gewalt und Korruption. Um frei zu sein, sind wir gezwungen abertausende Barrieren zu überwinden.“
Die heute angekommenen Geflüchteten kommen vorwiegend aus der Gegend südlich der Sahara: aus Nigeria, Mali, Guinea und der Elfenbeinküste. Unter ihnen sind viele junge Frauen und unbegleitete Minderjährige, die uns vom Beginn ihrer Reise mit Freunden erzählen, die sie jedoch auf ihrem Weg verloren oder in der Wüste tot zurücklassen mussten. Samstag Nacht sind sie in heruntergekommenen Schlauchbooten von Tripolis aus aufgebrochen und nun hoffen sie auf bloßes Ausruhen. Ein Junge wird ohnmächtig, während er auf dem Asphalt sitzend auf das Voridentifizierungsverfahren wartet. Es bläst dieses Mal kein starker Wind, aber die Sonne brennt und die Geflüchteten sind sichtlich gezeichnet von ihrer anstrengenden Reise, doch sie müssen warten. Nach weiteren zwei Stunden Wartezeit, dürfen wir endlich den Bereich betreten, in dem sich jene Personen befinden, die das Verfahren zur Voridentifizierung bereits durchlaufen haben. Wo wir auch hinsehen ist ein hohes Aufgebot an Polizei- und Frontexpersonal. Weit mehr Polizeipersonal ist anwesend, als Mitarbeiter*innen von NGOs.
„Wo sind wir? Wo werden wir hingebracht? Wie lange müssen wir warten?“ Das sind die meistgestellten Fragen an uns. Fast alle wollen umgehend ihre Familie beziehungsweise die Zuhause Verbliebenen kontaktieren, die eine gefährliche Reise übers Meer nicht in Erwägung ziehen. Grund dafür ist das eingezäunte Gebiet an der libyschen Küste, in dem Viele vor Aufbruch festgehalten, wenn nicht sogar im Gefängnis festgehalten werden. Zu alledem ist da noch die Angst, zurückgeschickt zu werden, denn „überall ist Polizeipersonal. Was passiert?“ Doch manchmal weicht die Furcht dem eigenen Schicksal. „Ich wurde zur Flucht gezwungen“, sagt uns ein junger Mann aus Guinea. „Ich wusste nicht einmal, wo Italien ist. Ich versuche nun in dieser neuen Welt zu überleben und das Beste daraus zu machen.“ Neben ihm versucht ein Kollege zu sprechen, aber er ist dafür einfach zu müde. „Die Geschichte meiner Reise ist lang. In Libyen wusste ich nicht mehr, welcher Tag ist, weil die Zeit im Gefängnis still stand. Ich hoffe, dass mir irgendwann irgendwer zuhört.“
Gegen Abend werden einige Geflüchtete in nächstgelegene Aufnahmezentren gebracht, wo weitere Identifikationsverfahren und bestimmte Abläufe, die das System vorsieht, auf sie warten. Die genannten Verwaltungsschritte sollten eigentlich einen würdige und sichere Aufnahme für die Geflüchteten bieten, doch wir wissen alle, dass dem oft nicht so ist.
Foto: Lucia Borghi |
Weiterhin bleibt der Hotspot in Pozzallo überfüllt. Der Aufenthalt vieler unbegleiteter Minderjähriger wird in die Länge gezogen. Es scheint, als verweilen hier nicht nur die Migrant*innen, die letzten Dienstag ankamen, sondern seit Wochen sind noch unbegleitete Minderjährige untergebracht. Immer wieder werden für diesen Missstand fehlende Plätze und ausgeschöpfte Kapazitäten als unannehmbarer Grund angeführt.
Außerhalb des Aufnahmezentrums verzeichnen wir eine hohe Präsenz an Einsatzkräften, während das Militär den Eingang bewacht.
Mittwoch Vormittag konnte man eine halbe Stunde lang eindeutig Schreie von Geflüchteten aus dem Aufnahmezentrum hören. Wir kennen den Grund dafür nicht, doch mit großer Sorge befürchten wir, dass die bereits bekannten Praktiken eingesetzt wurden, gegenüber Migrant*innen die das Identifikationsverfahren ablehnen, oder die Migrant*innen haben den einzigen Weg genutzt, für ihre Recht zu protestieren, der ihnen bleibt. Die versprochene „Aufnahme“ in der Festung Europa scheint wohl noch nicht begonnen zu haben und wir vielleicht auch nie eintreten.
Lucia Borghi
Bordeline Sicilia Onlus
Übersetzt aus dem Italienischen von Simone Rosa Pfleger