Die italienische Regierung hat den migration compact (die Migrationsvereinbarung) präsentiert, die im Gegensatz zur symbolischen Mission von Papst Franziskus zu stehen scheint. Der Papst hat sich bei den Migrant*innen für die täglichen Demütigungen entschuldigt und er hat gar zwölf Personen nach Rom gebracht. Die Migrationsvereinbarung ist nichts anderes als der erneute Versuch die Grenzen nach außen zu verlagern und die afrikanischen Länder einzunehmen, indem man weiterhin die Kontrolle der Migrationsströme militarisiert. Dafür wird in Kauf genommen, dass diese Abkommen mit Ländern (wie zum Beispiel Türkei oder Libyen) geschlossen werden, die die Menschenrechte missachten. Wir werden immer intoleranter, auch wenn diese Intoleranz tausenden Menschen das Leben kostet und nur ein Ziel verfolgt, die Ankünfte zu blockieren.
So sind am 18. April 2015 mehr als 800 Menschen gestorben und so sind ein Jahr später, am selben 18. April, 400 Menschen gestorben, während wir in Palermo der Karawane beiwohnen und die Stimmen vieler Migrant*innen hören. Sie erzählen uns, dass Eltern noch immer darauf warten vom Schicksal ihrer Kinder zu erfahren, jenes Schicksal, das alle Migrant*innen von den Grenzen Mexikos bis nach Tunesien vereint.
Auch die Toten des Bootsunglücks vom 18. April 2016 vor der libyschen Küste können der europäischen Politik zur Last gelegt werden. Weitere sechs Leichen und 21 Vermisste, so die Crew der SOS Mediterranee Italia. Das Schiff ist im Mittelmeer unterwegs, um Leben zu retten. Die schlechten Bedingungen auf See haben die Bergung der sechs Toten verhindert und es unmöglich gemacht, ihnen einen Namen zu geben. Neuen Namen kommen auf die Liste der Vermissten, es sind viele, zu viele Desaparecidos.
Das Schiff Aquarius der SOS Mediterranee Italia hat die 108 Überlebenden auf Lampedusa an Land gebracht. Ausgenommen der 15 Verletzten, die gleich in das Polyambulatorium der Insel gebracht wurden, befanden sich alle Überlebenden in guter Verfassung. Jene Personen, die von privaten Schiffen gerettet werden sind „privilegiert“, da die Crew (nicht militärisch sondern solidarisch und zivil) sehr menschlich ist und die Geretteten mit Nahrung und Kleidung versorgt. Außerdem gestatten sie es den Frontex-Mitarbeiter*innen nicht an Bord zu gehen, wie es auf den Militärschiffen ständig passiert, die im Mittelmeer patrouillieren.
Als die Überlebenden jedoch in den Hafen von Lampedusa gebracht wurden, war die Anwesenheit von Frontex allgegenwärtig. Die Ankommenden wurden nicht wie üblich von vier bis fünf sondern von 20 Einheiten erwartet. Bei den Befragungen der gerade angekommenen Geflüchteten demonstrierte Frontex seine Macht und schüchterte die Menschen psychologisch ein. Dies ist manchmal "notwendig", um die mutmaßlichen Schlepper ausfindig zu machen, es wird aber auch genutzt um der Öffentlichkeit einen Sündenbock zu präsentieren, zum Wohle aller und vor allem zum Wohl von Frontex. Die europäische Grenzagentur rühmt sich weiterhin mit ausgezeichneter Arbeit, um weitere Aufstockungen der finanziellen Mittel zu ermöglichen. Ein Lob auf einen seit fünf Jahren positiven Trend.
Im Hotspot bekommen die 108 Überlebenden, wie all die anderen Personen, die zuvor hier angekommen sind, eine juristische Gruppenberatung. Diese verläuft nicht ohne Schwierigkeiten. Zum einen wegen der psychologischen Verfassung der Menschen und oft auch wegen der sprachlichen Verständigungsprobleme. Diese Mängel bei der Rechtsberatung erhöhen die Chancen, dass die Geflüchteten nach dem Ausfüllen der Fragebögen als Wirtschaftsgeflüchtete eingestuft werden. Dies ermöglicht es wiederum, dass sie den mafiösen Schleppern und Großgrundbesitzern auf dem Silberteller präsentiert und skrupellos ausgenutzt werden.
Die Bewohnerzahl der Einrichtung im Viertel Imbriacola liegt zum heutigen Tag bei über 300, und steigt mit dieser Ankunft erneut an. Im ersten Hotspot Italiens gehen die illegalen Praktiken weiter, einige der derzeitigen Bewohner*innen sind bereits im Dezember angekommen. Bald wechselt die Führung des Hotspots, die Präfektur hat sie bereits ausgeschrieben. Unter den Bewerbern sind Solco und Badin Grande, die sich zufällig zusammengeschlossen haben. Beide führen zusammen mit Don Calabria einen Großteil der sozialen Einrichtungen für Minderjährige, Menschen mit Behinderung, Migrant*innen und Drogenabhängige in Palermo. Ihre Konkurrenten sind das Rote Kreuz Rom, das Konsortium Opere di misericordia, die Kooperative „Vivere con“ (Leben mit) von Mazzara del Vallo (sie führt verschiedene Zentren in der Provinz von Trapani), „Azione Sociale“ (Soziales Handeln) und die Vereinigung „Vivere insieme“ (Zusammen leben). Eine dieser Körperschaften wird demnächst die Leitung eines Aufnahmezentrums übernehmen, das wenig zu bieten hat. Die ungünstige Lage macht eine schnelle Umsiedlung kompliziert, allerdings ist es gut gelegen für rasche Rückführungen in die afrikanischen Ursprungslänger mit denen die europäischen Regierungen Abkommen aushandeln wollen.
Auch andere Provinzen schreiben die Leitung von außerordentlichen Aufnahmezentren (CAS) aus, wie beispielsweise in Trapani. Dort hat das Polizeipräsidium die gleichmäßige Aufteilung der Zentren auf die sich bewerbenden Kooperativen beschlossen. In Palermo scheint ein zeitlich befristeter Zusammenschluss von Vereinigungen unter der Leitung des Konsortiums SOLCO gewonnen zu haben, auch wenn das Verfahren noch vom Polizeipräsidium überprüft wird. Die SOLCO wird im Zusammenschluss mit weiteren Kooperativen aus der Provinz von Palermo, die bereits CAS leiten, den Auftrag übernehmen. Die einzige auswärtige teilnehmende soziale Kooperative ist die "Ippocrate" mit Sitz in Enna, dessen rechtlicher Vorsitzender der Lokalpolitiker Paolo Colianni ist.
Zwischen all den Ausschreibungen und Ankünften bleibt nur eines konstant, die Nichtaufnahme der Unglücklichen und die täglichen Katastrophen. Es wird nicht nur auf dem Meer gestorben, sondern auch in der Seele, wie bei den Tunesier*innen die sich selbst verstümmelten und jede Behandlung ablehnten, um nicht im Identifikations- und Abschiebezentrum (CIE) zu landen und abgeschoben zu werden. Dies geschah letzte Woche den Tunieser*innen die an der marsalesischen Küste ankamen und in das CIE von Caltanissetta verlegt wurden. Das Gleiche passierte auch den ca. 20 eritrischen Migrant*innen, die nicht die Bedingungen zur Relocation akzeptieren wollten, da es nicht mit ihren Plänen übereinstimmte. Sie flüchteten aus dem Hotspot in Milo um nicht ihre digitalen Fingerabdrücke abzugeben, wurden jedoch gleich wieder festgehalten. Auch für sie steht ein unsichtbares Leben bevor und eine konstante Flucht, und auch sie müssen in unserem kurzen Gedächtnis Platz finden.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner