Sogar an Weihnachten! Wir sind nicht fähig den aufzunehmen,
der in Schwierigkeiten steckt; wir haben einen Grundwert des zivilen
Zusammenlebens verloren: Den Respekt und die Aufmerksamkeit für den anderen.
Die Weihnachtszeit ist par excellence die Zeit, in der wir imstande sind, „einen Platz am Tisch hinzuzufügen“. Wir aber töten auch in dieser Zeit weiter in betäubender Stille; eine Stille, die am meisten die ständigen Tötungen verheimlicht, die von einem tauben Europa, das von der Macht nicht genug kriegt, fortgesetzt werden: Einer Macht, die tötet, einer Macht, die unsichtbar macht, einer Macht, die Irreguläre innerhalb eines illegalen Systems, gemacht aus rassistischen und diskriminierenden Gesetzen, produziert.
Die Irregulären dieses Systems sind die Somalis, die sich
auf der Straße nach Agrigent befinden, die Gambier, die von Gesetzen in Palermo
gestoppt werden. Und weitere 40 Personen, die mit den letzten Anlandungen
zwischen Catania und Syracus angekommen sind, die sich hinzuaddieren zu den
unzähligen Abgewiesenen und Verlassenen in diesem Land, mit Folgen für das
friedliche Zusammenleben aller.
Wir wissen nicht, wie man aufnimmt; stattdessen sind wir fähig,
auch Kinder zu töten. Die Schätzungen sprechen von ungefähr 750 toten Minderjährigen.
Aber eine Gesellschaft, die nicht weiß, wie man die Wehrlosesten verteidigt,
ist keine Zivilgesellschaft.
Wir wissen nicht, wie man aufnimmt, weil wir hinter dem Gott
Geld herlaufen, der die Toten verursacht, angesichts derer wir uns nicht mehr empören
und die kein großes Aufsehen mehr erregen.
Die Situation ist paradox: Sizilien ist ein Hotspot unter
freiem Himmel geworden, aber die Risse dieses illegalen Systems, die doch
offensichtlich sind, scheint niemand zu sehen. Die
Eritreer, die in den vergangenen Tagen auf Lampedusa gegen die Durchsetzung der
Festung Europa protestiert haben, sind noch immer auf der Insel; man
wartet, dass sie aufgeben; jetzt sind sie die Opfer von Gewalt und der
psychologischen Kriegsführung, die im Hotspot seit der Eröffnung ausgeübt werden.
Aber seit dem 23. Dezember ist das Zentrum erneut überfüllt;
kurz vor Weihnachten sind an zwei Tagen weitere 450 Geflüchtete angekommen;
jetzt leben 900 Personen im Zentrum, das höchstens für die Hälfte Kapazität hat.
Aber die Situation verschlimmert sich noch, da auch der
Hotspot von Milo (Trapani) aktiviert wurde. Ja, die alte CIE1-Ruine
die schon vergangenen Juni umgewandelt werden sollte, ist jetzt zu einem
Hotspot geworden, ohne dass die seit langem angekündigten
Instandsetzungsmaßnahmen durchgeführt wurden (die Einrichtung muss saniert
werden, da ganze Bereiche außer Betrieb sind). Von einem Tag auf den anderen
hat das Innenministerium der Präfektur und der Betreibergesellschaft die
geänderte Nutzung mitgeteilt. Völlig unvorbereitet wurden daraufhin gestern die
128 Personen (123 Männer, eine Frau und vier unbegleitete Minderjährige), die
im Kanal von Sizilien gerettet wurden und im Hafen von Trapani angelandet sind,
in das ehemalige CIE verlegt. Die Migranten sind unterschiedlicher
Nationalität: 40 kommen von der Elfenbeinküste, 44 aus Guinea, 25 aus Mali, 6
aus Kamerun, 4 aus dem Senegal, 4 aus Gambia, 2 aus Libyen, 2 aus Liberia. Es
liegt auf der Hand: Unvorbereitet sind auch die, die gestern noch nach bestimmten
Kriterien und Regeln in einem CIE gearbeitet haben und heute in einer
Einrichtung ohne einen klaren juristischen Status neue und nicht kodifizierte
Regeln umsetzen sollen.
Was in dem neuen Hotspot passieren wird, können wir nicht
wissen; aber sicher ist Trapani nicht Lampedusa, wenigstens nicht geographisch.
Wir werden sehen, ob die Ordnungskräfte mit den gleichen psychologischen
Repressalien arbeiten, die auf der Insel angewendet werden und in die Praxis
umsetzen, was Europa fordert; das bedeutet mit noch mehr Entschiedenheit,
Fingerabdrücke zu nehmen und eine Auswahl zu treffen.
Wir sind nicht in der Lage aufzunehmen, wie es erforderlich
ist; und Italien akzeptiert es, Gewalt gegen
Personen anzuwenden, die sich weigern zu kollaborieren und sich Fingerabdrücke
abnehmen zu lassen; auch gegen Minderjährige, die zu oft aus Bequemlichkeit und
Zweckdienlichkeit wie Erwachsene behandelt werden, da Plätze für ihre
„Aufnahme“ fehlen.
Die „Nicht-Aufnahme“ und die Unfähigkeit eine Musterlösung
zu entwerfen, die ihren Namen verdient und eines zivilisierten Landes würdig
ist, betrifft auch die Minderjährigen, selbst bei den Projekten, die vom
Innenministerium ausgearbeitet worden sind. Wir beziehen uns auf das Projekt
„Rainbow“, ein hochspezialisiertes Pilotprojekt der MSNA2. Anlässlich
unseres Besuches im Zentrum von Trabia in der Provinz Palermo (begleitet von
einem Abgeordneten der Präfektur der Hauptstadt) haben wir bemerkt, wie
ungeachtet der Anstrengungen der Betreibergesellschaft (ein zeitweiliger
Zusammenschluss von Firmen, gebildet aus „New Generation“ und „Sviluppo
Solidale“) die Resultate, gelinde gesagt, katastrophal sind. Dieses
Pilotprojekt unterscheidet sich von anderen spezialisierten Aufnahmeprojekten
auf Sizilien, weil der Ansprechpartner für „Rainbow“ direkt das Ministerium ist
und nicht die Region Sizilien, wie zum Beispiel bei dem entsprechenden Zentrum
von San Giovanni Gemini (AG), geleitet von derselben Betreibergesellschaft. Ein
greifbarer Unterschied besteht vor allem in der Tatsache, dass in dem Projekt
„Rainbow“, im Gegensetz zu Zentren, die an die Region gebunden sind, die
direkte Verbindung mit dem Ministerium ein wirksames Instrument sein müsste, um
auf die Probleme zu reagieren, die sich täglich in der Verwaltung zeigen.
Aber der gute Wille der Betreibergesellschaft reicht alleine
nicht. Tatsächlich haben wir sowohl im Projekt „Rainbow“ wie auch im Zentrum
San Giovanni Gemini herausgefunden, dass die Mehrzahl der anwesenden Bewohner*innen
keinen zugewiesenen Tutor hat; darüber hinaus gibt es in Trabia 40 Jugendliche,
die am 5. Mai angekommen sind, die sich dem Projekt zufolge nur 60 Tage in der
Einrichtung aufhalten sollten (verlängerbar auf maximal 90 Tage); sie sind seit
mehr al 7 Monaten dort; viele haben erst vor einem Monat die Zuweisung eines
Tutors (durch das Gericht in Termini Imerese) bekommen. Die Prozedur zur
Ernennung der Tutor*innen ist nicht transparent (aber nicht nur in Trabia); und
vor allem ist die Dauer des Aufenthalts nicht sicher. In Trabia, wie an anderen
Orten, beachtet man die Reihenfolge der Ankunft in der Jugendeinrichtung mit
Blick auf ihre Verlegung in eine endgültige Aufnahmeeinrichtung nicht; das verursacht
beachtliche Konflikte zwischen den Gästen und der Betreibergesellschaft. Die
Jugendlichen haben uns unisono gebeten, ihnen zu helfen; im Chor haben sie uns
gesagt, dass es für sie sehr schwer ist, eine solch lange Zeit zu verstehen und
zu warten.
Wie im Zentrum von Alcamo, so auch in dem von Trabia: Wer in
einem Monat 18 Jahre alt wird, bleibt in der Einrichtung, ohne dass er eine
soziale Eingliederung und eine Legalisierung durchlaufen hat; für ihn gibt es
eine Verlegung in ein CAS3, wo die ganze Prozedur für Volljährige
wieder beginnt. „Durch sie habe ich 7 Monate meines Lebens verloren und jetzt?“
fragt uns ein Bewohner, der am 1. Januar 18 wird. Viele erzählen uns, dass sie
sich wie Gefangene fühlen, auch weil es keine Interaktion mit der Umgebung
gibt; andere sagen uns, dass niemand antwortet, nicht einmal die humanitären
Organisationen, die das Zentrum besucht haben, und so setzen sie auch in uns
nicht viel Vertrauen, obwohl wir deutlich erklären, dass wir leider keine Macht
haben; zumindest können wir ihnen eine Stimme geben und diese Projekte, die
nicht funktionieren, anprangern.
Wir haben die Jugendlichen verlassen, die mit den
Mitarbeitern diskutierten; diese werden nicht müde, den Jugendlichen ihre
eigenen Schwierigkeiten und ihr Unvermögen zu erklären, in diesem System zu
arbeiten, dass unfähig ist, selbst Minderjährige aufzunehmen.
Alberto Biondo
Borderline
Sicilia Onlus
1CIE - Centro di Identificazione ed
Espulsione: – Zentrum zur Identifikation und Ausweisung
2MSNA - Minori Stranieri Non Accompagnati – unbegleitete Minderjährige
3CAS – Centro di accoglienza straordinaria,
Außerordentliches Aufnahmezentrum
Aus dem Italienischen von Rainer Grüber