siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Freitag, 13. November 2015

Zu den Landungen: Chaos bei den Identifikationen, auch Minderjährige sind in Gefahr abgeschoben zu werden. Schwerwiegende Missachtung unserer Gesetze

Rom - Die Erlebnisse einer Gruppe unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist nur das letzte der Ereignisse während der vergangenen Wochen in den Landehäfen, das die Hilfsorganisationen anprangern: Rückweisungen in exponentieller Zunahme, Chaos bei den Identifikationen, Jugendliche, die zuerst mit einer Abschiebungsanordnung konfrontiert und später als minderjährige Asylanwärter*innen anerkannt werden, die Missachtung des (Migrant*innen von Gesetzes wegen zustehenden) Anspruchs auf internationalen Schutz. Genau wie die Hilfsorganisationen verurteilt auch der UNHCR, das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge, die Geschehnisse.

UNHCR: Wir haben erst nach der Erfassung durch die Polizeiorgane die Möglichkeit den Migrant*innen Informationen zu geben. In einem neuen Bericht des UNHCR zur Flüchtlingskrise in Europa wird Bezug genommen auf das bei den Identifikationen mangelhafte Prozedere in Italien. Es wird betont, dass es erst möglich ist, den Migrant*innen «nach den Erfassungen durch die Polizei» die nötigen Informationen über die Möglichkeit der Beantragung ihres Schutzstatus zukommen zu lassen.    
Im Bericht des UNHCR steht, dass die Prozeduren «uneinheitlich gehandhabt werden in den verschiedenen Ankunftsorten und dass es an einem einheitlichen System fehlt».
Was ebenfalls fehlt, ist der grundsätzliche Schutz der besonders schutzbedürftigen und «traumatisierten Menschen, vor allem der Schutz der Opfer von Menschenhandel und Folter».

«Unsere Vertreter*innen in Sizilien berichten, dass der Anspruch der Migranten auf Information über ihre Rechte nicht immer eingehalten wird», bestätigt Federico Fossi vom UNHCR in Italien. In der Tat, die Geflüchteten müssten nach europäischem Recht bei ihrer Ankunft über ihre Rechte und die Möglichkeit eines Antrages auf ihren  internationalen Schutzstatus informiert werden. Aber in manchen Ankunftsstellen findet das nicht statt. Das ist eine schlimme Missachtung der Gesetze.»

Das bestätigt auch Giovanna Die Benedetto, Sprecherin von Save the Children: » In verschiedenen Orten haben wir Zustände vorgefunden, die wir beanstandet haben. Es geht uns vor allem darum, dass wir die Jugendlichen erst nach ihrer Identifikation durch die Polizeiorgane über ihre Rechte informieren dürfen und nicht vorher, wie es korrekt wäre. Und unsere Anwesenheit ist während der Überprüfungen nicht gestattet.»
Minderjährige werden als Volljährige identifiziert; für alle wird das fiktive Geburtsjahr 1997 festgelegt.  Aber was bringt diese Unterlassung von Informationen tatsächlich mit sich? Die Anordnungen von Ausweisungen nehmen zu und treffen auch solche, die in unserem Land Asyl beantragen könnten. Und nicht nur das, es sind viele Fälle von falsch deklarierten Volljährigen, die riskieren zurückgeschickt zu werden.

«In letzter Zeit haben wir ein viel härteres Vorgehen seitens der Polizei festgestellt. Sie unterziehen die Migrant*innen einer raschen Befragung und identifizieren sie sofort» unterstreicht Simonetta Cascio, die Präsidentin des Arci* von Syrakus.
So geschah es bei einer Landung am 19. September 2015 in Augusta. 40 Personen wurden im dortigen ausserordentlichen Aufnahmezentrum beherbergt, wo ihnen eine Abschiebungsverfügung ausgehändigt wurde. Unter ihnen waren 8 Jugendliche, die uns sagten, sie seien nicht volljährig, aber als solche identifiziert worden waren von den Grenzbeamten. Da sie keine persönlichen Dokumente vorweisen konnten, wurde allen das fiktive Geburtsdatum des 1. Januars 1997 zugeschrieben, das aus ihnen Volljährige macht."
Die Vertreter*innen von Arci* erklären aber, dass es sich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Gambia und dem Senegal handelt. "Nachdem wir diese Informationen sichergestellt hatten, haben wir die Rechtsanwältin Carla Trommino damit beauftragt, sie zu vertreten, was bis heute geschieht. Ihr haben die Jugendlichen bei einer Einvernahme versichert, dass sie minderjährig sind. Das Gleiche hat sich bei einer Landung am 3. Oktober zugetragen. 30 Personen haben eine Abschiebungsverfügung erhalten, unter ihnen auch zwei Minderjährige, einer aus Guinea, der andere von der Elfenbeinküste. Erst nachdem wir uns zusammen mit der Hilfsorganisation AccoglieRete (Empfangsnetz) eingeschaltet haben, war es ihnen möglich, den Antrag auf internationalen Schutzstatus zu stellen und als Minderjährige anerkannt zu werden. Wir verstehen nicht, wie so etwas möglich ist, das sind sehr schlimme Vorkommnisse."

Auch Giovanna Di Benedetto von Save the Children berichtet von "Minderjährigen, die als Volljährige registriert wurden". "Unsere Mitarbeiterinnen haben uns mehrere solcher Fälle gemeldet und wir haben darüber Bericht erstattet. "Von Gesetzes wegen sind Minderjährige immer schutzberechtigt, ob sie nun Asylbewerber sind oder nicht. Und sie können darum keinesfalls zurückgewiesen werden.

Zudem werden sie, weil falsch registriert, in Zentren für Erwachsene untergebracht, und nicht in für sie geeigneten Institutionen, wie es das Gesetz ebenfalls vorsieht" kritisiert das Arci* Syrakus aufs Neue.  Wir haben festgestellt, dass Jugendliche aus dem Zentrum Umberto I in  Syrakus in Zentren für Erwachsene transferiert wurden", fügt Simonetta Cascio an, "das Gericht hat erst Monate später auf unsere Hinweise reagiert." Die Präsidentin der Hilfsorganisation aus Syrakus erzählt weiter: "Es handelt sich um Jugendliche, fast noch Kinder, mit ihren Erlebnissen von Missbrauch und Gewalt. In meiner Heimat war mein Leben zerstört, sagte uns ein Jugendlicher aus Gambia, den wir begleiten. Dort hatte er absolut keine Möglichkeiten aufgrund von familiären Problemen."
Sie berichtet weiter: "Ein anderer Jugendlicher aus Guinea hat uns erzählt, dass er ethnische Diskriminierung erlebt habe. Dazu kommen die Strapazen der Reise, die erlebte Gewalt, die Angst im Meer zu ertrinken und zu sterben. Wie ist es nur möglich, dass man diese Jugendlichen weiteren Bedrohungen aussetzt und sie abweist?" (ec)

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*ARCI Associazione Ricreativa e Culturale Italiana: Verband zur Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, der Menschenrechte und Wohlfahrt

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne