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Dienstag, 22. September 2015

Wir haben auch das letzte Fünkchen Menschlichkeit verloren

Die Worte der Ärzte, die bei den letzten Anlandungen in Palermo, Trapani und Agrigent anwesend waren, sind eindeutig und lassen keinen Zweifel an den Grausamkeiten, die tausende von Menschen auf ihrem Weg nach Europa erlitten haben.


In Palermo sind 780 Personen angekommen, alle sehr jung, einige noch ganz klein, darunter 5 Kinder aus Eritrea im Alter von 10-13 Jahren, alleine unterwegs. Letztendlich haben sich viele Minderjährige für volljährig erklärt, damit sie die Reise im Reisebus fortsetzen können; die Autobusse kommen aus Rumänien, aber nicht etwa wegen der Aufschlüsselung der Phantomquoten zwischen den verschiedenen europäischen Ländern, sondern weil die Firma Atlassib aus Rumänien die neue Ausschreibung der Präfektur für die Verlegungstransporte gewonnen hat.

Am vergangenen Wochenende sind mehr als 5000 Menschen angekommen, vor allem aus Eritrea, Syrien, Nigeria, Ghana, Afghanistan: Alle diese Menschen sind aus einer Situation des Krieges, des Elends oder der Vernachlässigung geflüchtet; und sie haben in Libyen das gleiche Schicksal erlitten: Gewalttätige Übergriffe, Tätlichkeiten, Diebstahl, Folter und Tod. Der Tod liegt in diesen Situationen immer auf der Lauer, und auch gestern ist eine Frau gestorben, bevor sie von dem Schiff „CORSI“ der Küstenwache gerettet werden konnte; die Frau starb unter den Augen des Ehemannes und der Schwester, die mit diesem Schmerz, der nicht vergeht, weiterleben müssen; einem Schmerz, der noch heftiger wird, falls die Frau, wie der Ehemann berichtet, wirklich schwanger war. Europa hat sich, ebenfalls gestern, mit zwei weiteren grässlichen Vergehen beschmutzt; diese werden mit der Zustimmung aller totgeschwiegen, kein Fotograf konnte diesen Mord festhalten.

Der Ehemann und die Schwester sind zusammen mit weiteren 370 Migranten in das Zentrum zur weiteren Verteilung in Siculania, Villa Sikania, verlegt worden. Dieses hat eine Aufnahmekapazität von wenig mehr als 200 Personen und ist daher aktuell überfüllt. Wenn es der Präfektur gelingt, Reisebusse für die Verlegung zu beschaffen, werden sie innerhalb von 48 Stunden in den Norden verlegt.
In Trapani sind die Migranten angekommen, die von der „DIGNITY I“, dem Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“, gerettet wurden, 380 Frauen, Männer und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Auch bei dieser Anlandung wurden 15 Personen sofort ins Krankenhaus gebracht: Zeichen, der immer offensichtlicher werdenden Schwierigkeiten, die mit dieser Reise verbunden sind. Alle sind auf Reisebusse verteilt worden, um in Richtung der Zentren in der Lombardei, Toskana, Emilia Romagna, Veneto, oder in die Marken aufzubrechen; nur gut hundert sind auf Sizilien geblieben, zwischen Messina und dem Megazentrum von Badiagrande in Valderisce, das ein Fassungsvermögen von 200 Personen hat.
Trapani bestätigt einmal mehr seinen Ruf als Königin der Aufnahme mit seinen fast 3000 Migranten, die in den Zentren beherbergt werden; von diesen sind zur Zeit sehr viele auf den Feldern der Provinz beschäftigt, in der Weinlese und bald in der Olivenernte. Migranten kommen aus ganz Italien und geben den Landbesitzern vermehrt die Möglichkeit, durch die Nutzung ihrer Arbeitskraft die Preise zu drücken.
Trapani hat aus dem CIE* noch keinen Hotspot gemacht; in dieser Einrichtung befinden sich mehr als hundert Menschen aus dem Maghreb, die dort seit mehr als einem Monat unter prekären hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen eingeschlossen sind; so wird es von Delegationen, bestehend aus einigen Parlamentariern und Mitgliederns der Kampagne „LasciateCIEntrare“ (Lasst uns rein“), bezeugt.


Die andere Neuigkeit bei der Anlandung in Palermo ist die, dass auch die Ausgabe der Lebensmitteltüte in Zukunft nicht mehr kostenlos von der Caritas verwaltet wird, sondern von einer Gruppe CONAD** aus Palermo. Die Freiwilligen der Caritas kümmern sich aufgrund ihrer Erfahrung bis auf weiteres um die Verteilung. Was T-Shirts, Schuhe und Hosen angeht, so ist auch in Palermo die Firma PlaySport aus Syrakus ausgebootet worden; diese Firma war auf dem Gebiet der Verteilung an die Anlandenden schon länger dabei (z.B. in Pozzallo, aber nicht nur dort). So hat sich auch Palermo, für das Menschlichkeit ein Kennzeichen war, in einen Markt verwandelt, – wie vom System gefordert. Offensichtlich hat sich die Präfektur in dem Augenblick umgestellt, als die Caritas die Verteilung von Essen und Kleidung nicht weiter fortführen konnte.
Eine Menschlichkeit, die viele Betreiber von Wohngemeinschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht haben; man bemerkt es, wenn man sieht, mit welcher Kaltherzigkeit sie in den Hafen gehen und ihre „Ware“ an Land ziehen; und leider macht dies den Weg dieser Jugendlichen immer komplizierter; sie kommen in Einrichtungen, die oft nicht fertig sind, in der niemand die Sprache spricht und in der die Verantwortlichen Kasernenregeln aufstellen, um die Ordnung aufrecht zu halten. Während einer unserer vielen Rundreisen vergangene Woche (angesichts der Tatsache, dass sich die Klagen und Meldungen über atypisches Verhalten mehren) haben wir ein Regelwerk bemerkt, in dem das Verb „must“ (dt. „müssen“) das meistgenutzte war, um die Verhaltensregeln klarzumachen, die einzuhaltend seien.
Mögliche Konsequenzen beim Übertreten der Regeln, so wurde uns erzählt, ist das Einbehalten des Taschengeldes oder psychologische Erpressung. Das geschieht auch in Zentren mit hoher Spezialisierung in der Region, in denen die hohe Qualität der Dienste garantiert sein müsste. Dagegen werden die Kritikpunkte bei San Giovanni Gemini, das zeitweise zu Trabia gehörte und bei Alcamo endete, immer zahlreicher.
Folge ist die Flucht der Minderjährigen, die wir in den Straßen um den Bahnhof wiederfinden, wo sie unter einer Brücke, Säulengängen oder in Gärten schlafen; sie hauen ab, weil niemand in der Lage ist, ihnen zu erklären, was, wie und wie lange sie in den Wohngemeinschaften bleiben müssen und warum.
Ein 16jähriger Junge aus Eritrea hat kein Blatt vor den Mund genommen und uns erzählt, dass er in Libyen vergewaltigt und auch mit Strom gefoltert wurde; und erst nachdem seine Eltern das Lösegeld geschickt hatten, ist er freigelassen worden; mit anderen seiner Gefährten im Unglück war das Schicksal nicht so gnädig. „Ich will zu meinem Cousin nach Mailand und ich werde alles dransetzen, dass ich nicht auf der Strecke bleibe; meine Eltern haben ihr Leben für mich und für meine Freiheit gegeben, und ich will sie nicht enttäuschen; ich darf nicht versagen, ich will wie ein Jugendlicher in meinem Alter leben; ich will nicht jede Nacht aufwachen und weinen mit der Angst, die dich begleitet und dich nicht gehen lässt, ich bin müde und noch so jung. Seit 3 Monaten bin ich im Lager und tue nichts, ich schlafe, ich esse und ich habe keine Papiere und so mache ich jetzt mein Ding; ich habe einen Freund getroffen.“
Wir haben ihm weitere Fragen gestellt, wie vielen anderen. Die Wahrnehmung ist: Es gibt keine Klarheit, keine Mediation, keine Unterstützung, keinen Schutz (und in vielen Fällen auch keinen Beschützer). Deshalb, wegen der Unfähigkeit der Aufnahme, machen sich viele andere, wie unser junger Freund aus Eritrea, aus dem Staub. Wahrscheinlich wird auch er sich Männern anvertrauen, die die Möglichkeiten ausnutzen, die Europa ihnen schenkt; das heißt, sie werden Kapital schlagen aus der Hoffnung dieser Jugendlichen.
Im Grunde verstehen wir die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gut, die sich als Erwachsene ausgeben; wenigstens haben sie bei den Rumänen eine Mitfahrgelegenheit bis zum Norden; und so ist es leichter am Ziel anzukommen, anstatt auf der Straße zu enden und das letzte Fünkchen Menschlichkeit zu suchen, das irgendjemandem geblieben sein könnte!

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CIE – Zentrum zur Identifikation und Ausweisung
**CONAD – Zusammenschluss von ca. 3000 Einzelhändlern und Geschäftsgruppen

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber