siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Mittwoch, 12. August 2015

Soviel Heuchelei und Verwirrung, eine einzige Gewissheit: Der Tod – Palermo

Heute von dem zu erzählen, was auf Sizilien rund um die Migrationsströme geschieht, ist noch schwieriger geworden und, unter bestimmten Gesichtspunkten, beängstigend.


 Um uns herum Schreckgespenster, die umherschweifen in der Ineffektivität der Zentren der „Nicht“-Aufnahme und der Toten, die zwischen Sperrholzbrettern anlanden, die mancher auch weiterhin Särge nennt.

Wir sprechen von Toten, die wir nicht mehr zählen können angesichts der Lizenz zum Töten in den Händen unserer nationalen und europäischen Regierungen, die diese ohne jeden Skrupel gegenüber Kindern, Frauen und Männern jeden Alters und jeder Ethnie verwenden.
Die Toten sind die einzige Gewissheit in einer historischen Zeit, in der wir an einem neuen Holocaust mitwirken; es gelingt uns nicht, ihn zu stoppen, weil die Politiker gemeinsam mit den Wirtschaftspotentaten beschlossen haben, dass das Töten die beste Lösung ist: Für die Geschäfte, für die Kontrolle der Grenzen, für die Arbeitskraft zu niedrigen Kosten, um Angst in der Bevölkerung zu säen, um Intoleranz und Rassismus zu schüren.

Die Toten sind die einzige Gewissheit, gegenüber unserer Unfähigkeit, die Stimme zu erheben, uns von der Basis aus zu organisieren, um uns diesem täglichen Massensterben entgegenzusetzen, um uns gegenüber den Politikern zu entrüsten, die Chaos und Notstand hervorbringen, damit sie das Business der Immigration besser verwalten können, und gegenüber der Scheinheiligkeit ihrer hohlen Erklärungen vor willfährigen Journalisten. 
Mehr als 2.400 Tote in 2015 (offizielle Zahlen, die nicht mit Sicherheit mit der wirklichen Zahl der Opfer auf dem Meer übereinstimmen). Die letzten sind am 6. August in Palermo angekommen. Es waren 26 Leichen, davon 3 im Alter von 11, 12, 13 Jahren. Eine Qual, diese kleinen Körper ohne Leben zu sehen; eine Qual, die Eltern zu sehen, die von einem gewaltigen Schmerz zerstört sind, unfähig, einen Grund für die Tatsache zu nennen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht gerettet haben.

 Im Hafen von Palermo sind sie zu Unzähligen ausgestellt worden, zwischen Journalisten und Politikern, Militärs und diplomatischen Repräsentanten. Leichen, die mit Ehrengeleit begrüßt werden und Politiker, die sich bewegt zeigten, die Krokodilstränen vergossen haben, die aber gleichzeitig die Tür zum alten Kontinent geschlossen halten, die damit fortfahren, die Grenze zu militarisieren, die in diesen Toten den Sündenbock finden, den sie der öffentlichen Meinung zum Fraß vorwerfen. Außer den Leichen sind 360 Migranten angekommen, die ihre Reise nach Kampanien, in die Lombardei und das Veneto fortsetzen.

Auch die Politiker Palermos waren bei der Anlandung anwesend, mit dem Bürgermeister an der Spitze; aber nicht einmal sie finden die Entscheidungen fraglich, die von einer Verwaltung voran gebracht werden: Eine Entscheidung, die nicht über die eigene Nasenspitze hinaussieht; einer Verwaltung, die fähig ist, neben den Leichen und den Migranten im Hafen zu stehen und die die Menschen vergisst, sobald die Scheinwerfer auf das Sterben wieder ausgehen.
Auch dieses Mal bleiben die Opfer des Massensterbens ohne eine würdige Beerdigung. Und nicht nur das: Die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge werden ihrem Schicksal überlassen; bei dem ersten SPRAR*-Projekt der Stadt hapert es an allen Ecken und Enden, weil die Kommune als Verantwortliche nicht angemessen kontrolliert und keine angemessenen Ressourcen und vorbereitetes Personal zur Verfügung stellt; sie lässt die wenigen kompetenten Mitarbeiter alleine. Die einzig guten praktischen Aktivitäten, auf die wir in der Stadt hinweisen können, sind das Zentrum Astali und das Cus. Die Politiker Palermos, die übrigens in sozialen Netzwerken sehr präsent sind, weinen und schimpfen dort über das Mörder-Europa, das sein Verhalten ändern muss, schaffen es aber gleichzeitig nicht, den Etat aufzustellen, um eine kulturelle Mediation in den Zentrum zu garantieren: Was für eine Heuchelei und was für ein Chaos.

Es ist bewundernswert, die Präfektin bei den Anlandungen im Hafen von Palermo zu sehen, aber es ist weniger schön, dass einige Busse für die Überführung zwei Stunden nach der Anlandung ankommen und zu sehen, dass einige Menschen ohne Kleidung abfahren, ohne Schuhe, sogar in Unterhosen (mit den Freiwilligen der Caritas, die sich die Beine ausreißen, um das Fass ohne Boden der palermitanischen Aufnahmemaschinerie zu stopfen.)
Es ist bewundernswert zu sehen, dass der Polizeipräsidenten von Palermo mit seinen Leuten den Ankünften beiwohnt, aber weniger schön ist die wenig höfliche Haltung der Funktionäre, die nicht ein Wort Englisch radebrechen und sich einbilden, dass die Menschen, die gerade angelandet sind, Überlebende traumatischer Ereignisse, sie verstünden; und es ist auch nicht schön zu sehen, wie das Höchstalter der eher erwachsen wirkenden Jugendlichen oberflächlich ermittelt wird, nur weil es in Palermo in den Zentren für die Minderjährigen keine Plätze mehr gibt; und es ist darüber hinaus überhaupt nicht schön, dass ca. 80 Menschen aus dem Maghreb vier Stunden in der glühend heißen Sonne festgehalten werden, bevor sie einen Bus mit Ziel Immigrationsbüro besteigen müssen, um dann mit ad-hoc-Flügen „an den Absender“ zurückgeschickt zu werden. Und es wäre schließlich nicht schön, wenn man entdecken müsste, dass bei all diesen Abschiebungen die Gesetze nicht eingehalten worden wären.

Insgesamt: So viele schöne Worte, aber die Substanz besteht immer aus Ungerechtigkeit, Ineffizienz und Verletzung der Menschenrechte, auch dank des Chaos, das zwischen den Hauptakteuren des Aufnahmesystems herrscht: Wenig Einvernehmen und wenig Konzeptplanung.

Aber das kommt nicht nur in Palermo vor…

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber