siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.

Samstag, 20. Juni 2015

An der Meeresküste

Am Dienstag, den 16. Juni, haben wir das CAS* besichtigt, das von Jus Vitae in Santa Flavia in der Provinz Palermo betrieben wird. Wir haben sofort bemerkt, dass es sich, nach unseren Maßstäben, um einen angenehmen Ort handelt, insbesondere während der Sommerzeit. Natürlich wissen wir nicht, ob diejenigen, die dem Tod im Meer entkommen sind, es schön finden, direkt am Wasser zu wohnen!

Über diese erste Anmerkung hinaus, können wir über die gute Vorbereitung von Marco berichten, der nun seit September für das CAS verantwortlich ist. Die Einrichtung wurde während der ersten 6 Monaten ihres Bestehens durch die Sol. Co. verwaltet, welche damals direkt von der Präfektur beauftragt wurde.

Die Einrichtung entstand in einem Gut, das von der Mafia beschlagnahmt und der Jus Vitae anvertraut wurde. Der Verein um Pater Garau hat sich dafür entschieden, die Einrichtung – wie auch viele andere beschlagnahmte Güter – für die Unterbringung von Migranten zu verwenden.
Am Anfang wurden bis zu 55 Migranten aufgenommen, was zu einer regelmäßigen Überfüllung führte. Dieser Zustand wurde, dank einer Begrenzung der maximalen Bewohnerzahl durch die Präfektur und die Asp, behoben, was zu einer deutlichen Verbesserung der internen Dynamiken führte. Die Größe der Bewohnergruppen – 20 Migranten aus Benin, Mali, Guinea, Gambia, Nigeria und Bangladesch – und die offene Art von Marco und den Mitarbeitern erleichtern ein wenig die ungewisse Lage der Gäste.

Das italienische Aufnahmesystem begünstigt nicht gerade die Aufgabe derer, die im Sinne eines sozialen Zusammenhalts arbeiten möchten. So muss Marco oft das Unmögliche möglich machen, um eine Lösung der Probleme herbeizuführen. Zu den immer wiederkehrenden Problemen gehören zum Beispiel die unendlichen bürokratischen Zeiten: Die ersten Ankünfte der aktuell sich dort befindenden 20 Personen, waren im Mai 2014 und bis heute haben nur 10 davon eine Antwort von der Landeskommission erhalten (5 humanitäre Stati und 5 Verweigerungen, gegen die bereits Einspruch erhoben wurde). Weitere 3 Jugendliche warten noch auf das Ergebnis (und leider vergehen dafür Monate und Monate) und die im August 2014 angekommenen Migranten, warten noch auf  den  Anhörungstermin bei der Kommission.

Einige der Jugendlichen, die im CAS untergebracht sind, sind vor kurzem volljährig geworden und der Verantwortliche erklärte uns, dass sie als Erwachsene oft die gesamte Prozedur als Asylbewerber von vorne beginnen müssen. In den Einrichtungen für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge ist es oft zeitlich unmöglich, die Prozedur zu Ende zu führen, so müssen die jungen Menschen in anderen Einrichtungen wieder mehr als 18 Monate warten und den gesamten Prozess von Neuem beginnen, wie z. B. die jungen Menschen, die sich in Santa Flavia befinden.

Die Einrichtung, die das CAS beherbergt, ist gut gepflegt und die Beziehung zwischen den Mitarbeitern und den Gästen scheint herzlich zu sein: Es gibt eine offene Beziehung, die auch durch die begrenzte Bewohnerzahl gefördert wird.

Was die Verpflegung anbelangt, so hat die Einrichtung ein Abkommen mit dem Gastronomieunternehmen Cubana aus Palerno, welches Mittag- und Abendessen liefert, bestehend aus einem ersten Gang, einem Hauptgericht, einer Beilage, sowie Brot und Obst.
Die Gäste können auch abwechselnd einen PC benutzen, den sie sich mit den Mitarbeitern teilen und haben Zugang zu einem Gebetsraum. Dies sind alle Dienste, die dank der begrenzten Bewohnerzahl in der Einrichtung möglich sind.
Das CAS öffnete im März 2014 und wurde von den Anwohnern mit Vorurteilen betrachtet, die zum Teil bis heute bestehen und nur von denjenigen „überwunden“ wurden, die in den Migranten billige Arbeitskräfte gewittert haben.
Trotz des Argwohns, den die Einwohner den Migranten gegenüber zeigen, wie z. B. in einem Fitnessstudio der kleinen Gemeinde, lassen sich die jungen Leute aus dem CAS nicht einschüchtern. Sie haben nicht die Diskriminierung hingenommen, sondern haben selber eine Art Fitnessstudio auf die Beine gestellt.

Eine Schwierigkeit in der Organisation der Angebote innerhalb des CAS ist das Fehlen eines Italienischkurses auch weil gerade das Erlernen der Sprache der erste Schritt zur sozialen Inklusion darstellt. Aber, wie für die meisten CAS, ist es hier auch eine fast unüberwindbare Hürde, Kurse zu aktivieren oder die lokalen Schulen zu involvieren. Dies erschwert die Kommunikation, was wiederum eine Interaktion mit der Bevölkerung verhindert und den Listigen die Ausbeutung der Migranten erleichtert. Die vorhandene Sprachvermittlung ist ungenügend, da die zuständige Mitarbeiterin nur dreimal in der Woche anwesend ist.

In diesen Stunden jährt sich der Weltflüchtlingstag und in vielen Städten werden Initiativen angeboten, die erzählen wie gut wir darin sind, Migranten aufzunehmen und in die Gesellschaft zu integrieren. Auch in Palermo wurde von der Gemeinde ein Treffen organisiert, um die Arbeit der SPRAR in der Stadt vorzustellen. Viele haben schöne Geschichten erzählt, aber fast niemand hat von den Problemen dieser Aufnahme-Prozeduren in und um Palermo gesprochen. Die Problematik ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Gegend zum ersten Mal Strukturen der Zweitannahme beherbergt. In der Prozedur gibt es Lücken, die niemand füllen und umso weniger ins Licht rücken möchte, schon gar nicht die Gemeinde als die Projekt-führende Institution. Am Weltflüchtlingstag war kein einziger Flüchtling Protagonist der Initiative, es haben nur die Zuständigen der Einrichtungen referiert. Die Gemeinde Palermo hat sich hier (wie auch bei vielen anderen Dingen) dafür entschieden, den Schein zu wahren, in dem sie Frau Dr. Iuzzolino vom Zentralen Service gezeigt hat, wie „gut“ wir sind, ohne das Wort denen zu geben, die vielleicht etwas dazu zu sagen gehabt hätten. Die Tagung trug den Titel „Ich bin in Italien“ und es haben nur Italiener aktiv teilgenommen: Warum haben wir so viel Angst davor, den Asylbewerbern zuzuhören und mit ihnen gemeinsam zu reflektieren? Wenn man es nicht mal durch die SPRAR schafft Migranten in den Mittelpunkt derer Lebenslage zu stellen, was für einen Sinn hat es dann von Integration und einem „SPRAR-Modell“ zu reden?

Auch in der Gegend von Trapani, haben die Migranten viel zu erzählen. Im dortigen CAS, in der Ortschaft Fraginesi, wiederholen sich immer dieselben Probleme: Die Jugendlichen haben nicht nur gegen die bürokratischen Verspätungen protestiert, die ja nicht von der betreibenden Institution abhängig sind, sondern auch gegen ungenügendes und eintöniges Essen, Wasserhähne, aus denen kein Wasser floss, den Mangel an Beleuchtung der Wege außerhalb der Einrichtung und das Fehlen eines Arztes. In diesem CAS (einer ehemaligen Hotelanlage), in einer verlassenen Gegend bei Castellammare del Golfo, weit weg von allem und allen, wurde nicht zum ersten Mal protestiert. Nach den Protesten wurde der Wassermangel behoben und nun gibt es auch wieder Warmwasser. Die Außenbeleuchtung ist aufgrund eines Kurzschlusses während der Reparaturmaßnahmen noch nicht wieder aktiv.

Der Arzt, der einmal in der Woche ins Zentrum kam, möchte nicht mehr dort hinfahren und für die Jugendlichen ist es unmöglich, zu ihm zu fahren, weil die Gegend nicht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden ist. Die Mitarbeiter des Zentrums haben jetzt zwei private Autos zur Verfügung gestellt und fahren die Jugendlichen einmal pro Woche zu den ärztlichen Untersuchungen. Was das Taschengeld betrifft, so wird dies nicht regelmäßig verteilt; Es gibt oft Verspätungen und die längste Wartezeit bisher betrug 20 Tage.
Die Bewohner von „Sicilia Uno“, einem weiteren CAS in der Gegend von Trapani wieder bei Castellammare del Golfo, haben auch protestiert und gegen Mängel demonstriert und auch hier passiert dies nicht zum ersten Mal.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum 
*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis

Übersetzung von Linde Nadiani