POZZALLO (RG) – Der neue Vorposten
Europas ist ein Ort mit 19 Tausend Einwohnern. Hier, an der äußersten Spitze
der Provinz Ragusa, treffen neu angekommene Migranten auf Menschen, die seit
Generationen ihr Glück auf dem Meer versuchen. In jeder Familie in Pozzallo hat
sich zumindest eine Person aufgemacht, um auf Schiffen zu arbeiten. „Fast ein
Viertel unserer Bevölkerung ist an Bord gegangen,“ sagt Bürgermeister Luigi
Ammatuna. „Wir wissen was es heißt, seine Heimat zu verlassen, um zu leben,
deshalb können wir nicht anders als gastfreundlich zu sein. Pozzallische
Gemeinschaften gibt es auf der ganzen Welt von Amerika bis nach Australien.“
Für die Einwohner dieser
südsizilianischen Gemeinde bleibt das Meer der beliebteste Arbeitsplatz. Die
Einschreibungen für das Schifffahrtsinstitut nehmen ständig zu. „Hier gibt es
wenig Möglichkeiten, deshalb ist die Versuchung an Bord zu gehen groß, vor
allem momentan, in Zeiten der Krise,“ sagt Giovanni Colombo, ehemaliger
Stadtratsabgeordneter, dessen Bruder auf Kreuzfahrtschiffen arbeitet.
An dieser Küste sind seit Januar mehr
als 5.000 Menschen an Land gegangen, 1.000 allein heute. Drei Schiffe der
Militärmarine haben im Hafen von Pozzallo angelegt und die Carabinieri
von Modica konnten bereits vier mutmaßliche Schleuser identifizieren.
Man spricht von nichts anderem im
Geburtsort von Giorgio La Pira. So auch auf dem kleinen Platz, Sindaco
Santo, vor dem Rathaus, wo eine Gruppe von Rentnern diskutiert: „Sie sind
wie wir, sie brechen auf um Arbeit zu finden,“ sagt ein älterer Herr, der
selbst einst nach Amerika ausgewandert ist. „Die kommen um zu stehlen. Wir
haben Angst hier,“ sagt ein anderer. Forza Nuova hat die Welle der Angst
ausgelöst, als sie im letzten Sommer vor dem Erstaufnahme-Zentrum Flugblätter
verteilte mit dem Slogan: „Die Einwanderung wollen die, die sich nicht
erleben.“
Etwa 50 bestätigte Fälle von Krätze
im Erstaufnahme-Zentrum haben die Bevölkerung in den letzten Tagen beunruhigt.
Der Sanitätsdienst der Provinz hat allerdings beschwichtigt: „15-20% der
ankommenden Migranten leiden unter der Krankheit, sie ist jedoch wenig
ansteckend und bis heute wurden keine sekundären Fälle bei Mitarbeitern,
Ordnungshütern, Ärzten oder Krankenpflegern registriert,“ wie man in einem
Schreiben des Sanitätsbetriebs von Ragusa nachlesen kann.
Das Notizbuch, welches die Ankünfte
festhält, wird ständig aktualisiert. Die Situation ist beschwerlich,“ so
Virginia Giugno, die im Zentrum arbeitet. Sie wirkt erschöpft, nachdem sie
erfahren hat, dass heute ein weiterer Tag der Ankünfte sein wird. „Das Problem ist weitaus größer als unsere
Kapazitäten.“
Gestern erreichte das Militärschiff Libra
mit 364 Migranten an Bord, darunter drei schwangere Frauen und fünf
Minderjährige, den Hafen von Ragusa. Bis zur gestrigen Nacht waren im
Erstaufnahme-Zentrum von Pozzallo 443 Migranten und in der Einrichtung in
Comiso, einem ehemaligen Agriturismo umfunktioniert zum Aufnahmezentrum,
190 Personen untergebracht. Heute wird sich das ändern, wie man am Hafen hört:
„es ist notwendig nach einer neuen Lösung zu suchen, welche Platz für weitere
Ankömmlinge schafft.“ „Der Notstand wird nicht anerkannt,“ erklärt Nello Lo
Monaco vom Zivilschutz von Ragusa. „Aber das ist ein Notstand und wir brauchen
eine Politik die sich der Situation anpasst. Mein Büro hat nur 42 Mitarbeiter
und diese müssen sich um viele andere Angelegenheiten kümmern. Wir sind zu
wenige.“
Im Büro des Bürgermeisters von
Pozzallo herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Das Telefon klingelt
pausenlos und das Gefühl der Machtlosigkeit wächst. „Minister Angelino Alfano
sollte sich unsere Bemühungen mit eigenen Augen anschauen. Die Operation Mare
Nostrum leistet sehr gute Arbeit, indem sie auf Hoher See Menschenleben rettet,
aber sie müsste auch an Land aktiv werden, denn wir können so nicht weiter machen“.
Luigi Ammatuna hat auch den
Ministerpräsidenten, Matteo Renzi, nach Pozzallo eingeladen. In einem Brief
schrieb er: „Das provisorische Aufnahme-Zentrum am Hafen, gedacht zur
kurzzeitigen Unterbringung (2-3 Tage) von maximal 176 Personen, wurde zu einem dauerhaften
Aufnahme-Zentrum umgewandelt, in dem häufig 400–500 Personen untergebracht
sind. Die Lage vor Ort bereitet den Einwohnern Unannehmlichkeiten und Probleme,
aber, um Missverständnisse zu vermeiden, es fehlt ihnen nicht an
Gemeinschaftssinn und Menschlichkeit.“ Zwischen den Zeilen kann man vor allem
eines ablesen, die Sorge um die Sommersaison. Unter den Tourismusunternehmern
herrscht etwas schlechte Laune und sie sind bereits auf Kriegsfuß, da Pozzallo
2013 nicht mehr mit der blaue Flagge ausgezeichnet wurde, im Gegensatz
zu den zehn vorherigen Jahren. Die Touristen die im Zentrum des Städtchens
unterwegs sind, scheint es allerdings nicht zu kümmern, was zwei Kilometer
entfernt im Hafen-Hangar passiert. „Die Migranten stören uns nicht, im Gegenteil,
es würde einige Dienste mehr für sie brauchen,“ erklärt ein Touristenpaar aus
Rom.
In Pozzallo sind sich alle einig:
„Wir sind gastfreundlich, aber Rom muss reagieren.“ „Man sagt, die Bewohner von
Pozzallo würden jeden Hafen der Welt kennen,“ schreibt der Autor Nicola Colombo
in seinem Roman L'acqua e il sale di Pinò (Wasser und Salz aus Pinò), in
dem er Geschichten vom Meer, Schiffbrüchen und Hoffnung erzählt. „Wir können
den Schmerz unserer Brüder verstehen. In ihren Augen sehen wir den Blick vieler
unserer Mitbürger, die auf der Suche nach Hoffnung die Welt bereisten. Gleich
wie sie wissen wir, was das Salz in der Suppe ausmacht.“
- Giorgio Ruta
Arci (Vereinigung): „Genug mit der
Panikmache, die Ängste und Rassismus erzeugt.“
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner