2000 gerettete Migrant*innen, 200 Vermisste, 697, die im Hafen von Augusta angekommen sind, 400 die ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende von Mineo gebracht wurden sowie 270, die immer noch im Hotspot von Pozzallo festgehalten werden – es sind unzählige Zahlen, die die Zeitungen und Pressemitteilungen seit Jahren füllen, vorbei an der allgemeinen Gleichgültigkeit der Bürger*innen, oft jedoch leider auch an Personen, die vorgeben aktiv zu sein und selbst etwas zu organisieren. Geschickt werden immer wieder Informationen von den Medien ausgelassen. Den Leser*innen wird oftmals weder die Zeit noch die Möglichkeit gegeben, Geschichten und Projekte der Menschen hinter den Zahlen kennenzulernen – Menschen, die nicht in der überwachten Festung Europas geboren und aufgewachsen sind.
Oftmals handelt es sich nicht nur um lückenhafte oder ungenaue Informationen, sondern auch um sprachliche Veränderungen, die schon mal die Rollen von Beteiligten verdrehen können. So geschah es, dass eine bekannte sizilianische Tageszeitung, als sie über Proteste, die einige Tage zuvor am Hotspot Pozzallo stattfanden, berichtete, Polizei und Institutionen seien Opfer und hätten keine Verantwortung. Fakt ist, dass im Hotspot eine systematische Verletzung der Menschenrechte und der humanitären Verpflichtungen stattfindet, die im internationalen sowie im nationalen Recht und unserer eigenen Verfassung festgelegt sind. Erst vor kurzem kam es zum wiederholten Male zu einer extremen Überfüllung einer Unterkunft. In der für maximal 180 bis 220 Personen ausgelegten Unterkunft, befinden sich derzeit ca. 270 Personen, unter ihnen ca. 60 unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die seit fast einem Monat dort festgehalten werden. Sie dürfen nicht einmal den dazugehörigen Hof betreten, der durch ein Eisengitter abgesperrt ist und bewacht wird. Die maximale Aufenthaltsdauer von 72 Stunden im Zentrum, der Schutz von Minderjährigen, die Pflege und Versorgung besonders Schutzbedürftiger, die spezielle Behandlung und Unterbringung von Krätze-Patienten: Seit Jahren werden diese Regelungen nicht umgesetzt, so auch heute. Die dauerhafte Verletzung der Menschenrechte, die Überfüllung der Unterkünfte und die Kriminalisierung jeglicher Form von Protest von jenen, die rechtswidrig festgehalten werden, wird stattdessen immer noch mit der anhaltenden Notsituation gerechtfertigt. Es sind Entschuldigungen, die sich der Bevölkerung gut verkaufen lassen. Vor allem aber wird die anhaltende Situation als unvermeidlich dargestellt und alternative Lösungen unter den Tisch gekehrt. Tatsächlich handelt es sich um eine dauerhafte Verletzung der Menschenrechte und unmenschliche Handlungen. Auch in den Medien wird die illegale Praxis der europäischen Regierungen als unausweichlich dargestellt. Man versucht das Augenmerk auf die humanen Rettungsaktionen im Meer zu richten, jedoch wird kein Anzeichen gemacht nach existierendem alternativen Lösungen zu suchen. Es fehlt das geringste Interesse der Regierungen diese überhaupt nur in Erwägung zu ziehen. Humanitäre Wege und die Möglichkeit eines legalen Zugangs werden nur kurz aus Pflicht in den Nachrichten gebracht oder wenn wieder einmal das hundertste Bootsunglück passiert ist bei dem Hunderte von Menschen starben. Ansonsten bleiben die Unfähigkeit und Unabsetzbarkeit des Systems unerwähnt. Viele sind bereit diese zu akzeptieren, denn die Opfer sind fast immer die Migrant*innen, unsichtbar und ohne Stimme. Denn was würde passieren, wenn diese dauerhaft ausgeübten Verletzungen zum Nachteil der italienischen Bürger*innen wären? Oder wenn die europäische Politik unsere Interessen direkt angreifen würde? Dann wären ihnen wahrscheinlich so grundsätzlich wichtige Fragen weniger gleichgültig und sie würden der Täuschung und Desinformation durch die Institutionen weniger leicht Glauben schenken. Vor allem würden wir uns der ganzen Gewalt dieses Systems bewusst werden. Für viele ist es jedoch am einfachsten zu glauben im Recht zu sein. Dabei vergessen sie, dass ein Staat, der die Rechte, die er eigentlich garantieren soll, selbst nicht respektiert, eigentlich nur Angst und Besorgnis bei den Wähler*innen hervorrufen kann.
Währenddessen werden die eben angekommenen Migrant*innen sofort ihrer Individualität beraubt und wie Nummern in einem System kontrolliert. Während sie identifiziert, ausgewählt und zusammengedrängt werden, verlieren viele in den hunderten von Menschen ihre Freunde, die sie auf der Reise kennen gelernt haben. Sie sind oft der einzig menschliche Kontakt in den ersten Tagen. Am Anfang der Woche treffen wir einige Geflüchtete die im Hotspot Pozzallo untergebracht sind: Wir sehen einige von ihnen, vermutlich Minderjährige, im Hof des Schuppens Ball spielen. Als Folge der letzten Proteste werden sie von der Polizei bewacht. Vielleicht ändert sich in diesem Moment etwas, aber keiner weiß für wie lange oder warum. Wir wünschen uns, dass es der Beginn der Wiedereinführung der Legalität ist und nicht wieder nur ein Zufall zur bevorstehenden Eröffnung eines Festivals, organisiert von verschiedenen nationalen Vereinen, die tausende von Menschen aus aller Welt in die Stadt bringen. Die Migrant*innen mit denen wir reden haben die Erlaubnis nach den ersten drei, vier Tagen den Hotspot zu verlassen. Sie erzählen uns sie seien am ersten Mai angekommen. „Wir haben Glück, wir sind erst seit einer Woche hier. Viele sind viele Wochen hier gewesen.“ Wie Viele sind sie anfangs etwas misstrauisch und lassen zunächst uns reden, um zu sehen, wer wir sind. Haben sie jedoch einmal Vertrauen gefasst hören sie kaum auf zu erzählen und fragen uns oft nach der italienischen Übersetzung, um langsam die Sprache „verstehen“ zu lernen: „Es tut mir Leid, aber mein erster Kontakt mit Italien war nicht gerade positiv, deshalb kann ich hier niemandem vertrauen. Natürlich bin ich aber denjenigen dankbar die mir geholfen haben und mir das Leben gerettet haben. In Libyen habe ich praktisch nur eine Nacht in fünf Monaten geschlafen, denn jede kleinste Bewegung konnte eine Morddrohung mit sich bringen. Der Krieg ist überall, sichtbar und unsichtbar, sie schießen dir in die Beine sobald sie sehen, dass du ein Schwarzer bist und sie drohen dir dich ins Gefängnis zu stecken. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie einige Typen krampfhaft fortgeschleppt wurden, weil sie es gewagt hatten, ihren Blick zu ihren Herren zu erheben. Sobald du in Libyen angekommen bist merkst du schnell, dass du dort nicht lange überleben kannst, aber ich persönlich wusste nicht welchen anderen Weg ich hätte nehmen sollen, um zu fliehen.“ Die Erzählungen aus Libyen werden immer wieder unterbrochen, um kurze Beschreibungen der Reise auf dem Meer einzuwerfen. „Sehr, sehr lang war die Reise, vor allem nachdem wir gerettet wurden“, erzählen sie und leiten sofort zur aktuellen Situation über. Alle Geflüchteten mit denen wir reden scheinen sich der Tatsache bewusst zu sein, dass mit dem Abgeben ihrer Fingerabdrücke in Italien ihr künftiger Weg entscheidend beeinflusst wird und sie damit an unser Land für die Prüfung ihres Hilfegesuchs gebunden sind. Kurz nach ihrer Ankunft konnten sie ein Telefonat führen, inzwischen haben sie etwas Guthaben zum Telefonieren, auch wenn es keine leichte Aufgabe ist eine funktionierende Telefonkabine zu finden und das Geld gerade einmal reicht, um kurz Familie und Verwandte weit weg zu grüßen. „Wir sind nun seit einer Woche im Hotspot und es ist jetzt schon das dritte mal, dass sie uns ein Datum zum Auszug nennen, um uns dann zu sagen, dass wir nochmal warten müssen, warum?“ Einer der Männer zeigt mir ein Blatt mit seinem Foto und seinen Personalien, auf dem als Datum des Auszugs der 9. Mai angegeben ist, der Tag an dem wir uns sehen. Es ist bereits sechs Uhr abends und auch sein Auszug wird nicht mehr stattfinden. „Das Problem ist, dass sie uns nicht den Grund nennen können und nicht verstehen, dass wir den ganzen Tag darauf warten ausziehen zu können und dann sehr, sehr enttäuscht sind, wenn es nicht geschieht. Sie könnten auch einfach gar nichts sagen, das ist jetzt schon das dritte mal.“ Neben der Überfüllung und dem Fehlen jeglicher Privatsphäre „sind wir alle in dem selben Zimmer, Männer, Frauen und Kinder“ betonen die Jungs mehrere Male. Des Weiteren sei es nicht möglich saubere Kleidung zu erhalten. „Wir haben Kleidung bekommen gleich nachdem wir angekommen sind, dann nichts mehr.“ Das Problem ist, wenn einer eine (kalte) Dusche nimmt, bekommt er keine weitere Kleidung für die Zeit, in der er hier ist. Einige hatten wochenlang dieselben Kleider an. Ich verlange keine Garderobe, aber wenigstens die Möglichkeit, mal etwas wechseln zu können, um das zu waschen, was ich gerade anhabe.“ Sollten die Geflüchteten länger als 72 Stunden in dem Zentrum untergebracht sein, so müssten sie eigentlich zusätzliche Dienstleistungen bzw. eine zusätzliche Versorgung erhalten. Es scheint, dass die Einrichtung auch dies ignoriert. Im Moment scheinen 100 Migrant*innen im Zentrum zu sein. Unter ihnen seien, so sagen es uns die Jungs, Geflüchtete aus Nigeria, Gambia, Senegal, Guinea Conakry sowie circa 10 Eritreer*innen. Vielleicht werden sie solange festgehalten bis sie ihre Fingerabdrücke abgegeben haben, wenn man an die normalerweise kürzeren Zeiten denkt, die für die Personen der relocation vorgesehen ist. Für die Migrant*innen kommt der Moment und sie müssen sich beeilen, um rechtzeitig zurück im Zentrum zu sein. „Wir sind nur Zahlen hier, wenn einer fehlt, macht das keinen Unterschied. Wenn wir hier aber wegkommen und ausziehen, dann werden wir wieder zu vollen Menschen werden.“
Ähnliche Sätze haben wir bereits vor einigen Tagen im Zentrum Umberto I in Siracusa gehört, einer Erstaufnahmestation, deren rechtlicher Status von den Institutionen und dem Betreiber nie ganz geklärt wurde. Wir kommen mitten am Nachmittag an und bemerken sofort den Krankenwagen in unmittelbarer Nähe des Eingangs. Einige Migrant*innen warten auf ihre Untersuchung oder nutzen die Gelegenheit, um hier und da ein paar Worte mit anderen auszutauschen, in einer Sprache, die sie verstehen. Andere machen sich wiederum alleine oder in kleinen Gruppen auf den Weg, um die Kilometer zurückzulegen, die sie von dem nächstgelegenen Supermarkt sowie den belebteren Straßen der Stadt trennen. Wir fangen einige ab und sind sehr überrascht, was sie uns als Erstes sagen: „Wir haben Hunger!“ Nach wenigen Sekunden erahnen wir, dass die Übersetzung des Satzes eigentlich „Wir haben kein Geld!“ lautet. Wir finden heraus, dass die meisten von ihnen vor einer oder zwei Wochen hier am Hafen von Augusta angekommen sind. Seitdem haben sie keinerlei Geldzuwendungen erhalten, weder bar noch in Form von Telefonguthaben oder sonstigem. Für die Erstaufnahmezentren, zu denen sich auch das Umberto zählen müsste, ist eigentlich die Ausgabe von Kleidung sowie eines Hygiene-Kits vorgesehen. Für gewöhnlich erhalten die Bewohner*innen zudem Telefonkarten für den geplanten Aufenthalt, der laut dem Gesetz nicht mehr als 72 Stunden betragen dürfte. Hier präsentiert sich uns ein ähnliches Problem, auf das wir schon bei den Migrant*innen im Hotspot von Pozzallo gestoßen sind: Nach den 72 Stunden erhalten die Bewohner*innen keine zusätzliche Versorgung. Neben der mangelhaften Versorgung, kommt im Zentrum von Siracusa erschwerend hinzu, dass die Migrant*innen nicht einmal die Möglichkeit haben zu telefonieren. Die Bitte um Essen ist also keine Folge ausbleibender Versorgung mit Essen, das zwar sehr einfältig ist („Pasta zum Mittag- und Abendessen“), aber regelmäßig verteilt wird. Es ist vielmehr die Folge eines totalen Ausbleibens an Unterstützung nach drei Tagen Aufenthalt, die vom Gesetz vorgesehen sind. „Wir alle warten darauf, dass wir hier ausziehen können und versuchen nicht daran zu denken, dass manche schon seit Monaten hier sind.“ Manche von den Migrant*innen, mit denen wir reden, bestätigen uns, dass auch sie Bewohner*innen kennen, die seit geraumer Zeit im Zentrum untergebracht sind, wie zum Beispiel ein Junge im Kinderwagen, den wir vor einem Jahr kennen gelernt haben. Wir wissen nun, dass er erst seit kurzem ausgezogen ist, nach gut 11 Monaten, die er in diesem vollkommen unzureichenden Hotspot verbracht hat. „Einigen von uns geht es schlecht. Es gibt einen, der kann nicht gehen, das heißt er kann also nicht einmal wie wir das Zentrum verlassen.“ Die ärztliche Versorgung für besonders schwierige Fälle im Zentrum, wird durch ein Notfall-Team sicher gestellt. Der Umzug in geeignete Strukturen scheint jedoch nicht oberste Priorität für Institutionen, Betreiber und Ordnungsamt zu sein, die laut Gesetz im ganzen Gebiet aktiv sein sollten. Währenddessen warten und leiden die Migrant*innen leise und versteckt vor sich hin. Für jemanden, der bereits sehr schwach ist und das Recht auf besonderen Schutz hat, sind es Zustände, die die Situation nur verschlechtern können. Dank der dort festgehaltenen Migrant*innen erfahren wir neben der Zeit des Aufenthalts und der Situation schutzbedürftiger Personen zudem, dass im Umberto I auch „Zeugen“ untergebracht sind. Sie haben bei den Untersuchungen mitgearbeitet und „angebliche Schleuser“ bei ihrer Ankunft verhaftet. Es gelingt uns mit einem von ihnen zu reden, der uns sagt, dass er nicht der einzige in dieser Situation sei, aber er will uns weiter nicht viel sagen: „Als ich am Hafen angekommen bin hat die Polizei mir sehr viele Fragen gestellt. Ich habe alle beantwortet, obwohl ich am Anfang müde war und Durst hatte und nicht einmal verstand um was es ging und was mit mir geschehen sollte. Ich habe dann die selben Aussagen mehrmals gemacht. Jetzt bin ich hier, aber ich verstehe immer noch nicht, was mit mir passieren wird. Ich habe im Vergleich zu den anderen nicht einmal Papiere in der Hand.“ Die Migrant*innen werden also auch in Zukunft ihren Untersuchungen ausgesetzt sein bevor sie ohne jegliche Unterstützung durch die Institutionen sich selbst überlassen werden. Wir versuchen also unseren „Zeugen“ zu fragen, ob er Kontakt zu einem Anwalt hat oder jemanden kennt, den er um Erklärung bitten kann, aber wir verstehen, dass sein Moment der Offenheit gegenüber uns zu Ende geht. Vielleicht fragt er sich auch dieses Mal, ob er nicht zu voreilig gehandelt hat uns zu vertrauen. Während er weiter mit uns redet wird es nicht nur neue Festnahmen geben, sondern auch weitere Zahlen, die der Presse und der Öffentlichkeit hingeworfen werden, um das Vertrauen in ein heuchlerisches System zu stärken. Ein System, das dieselben Kriminellen hervorbringt, die es später anzeigen wird – ein so unmenschliches System, dass es Nummern braucht, um weiter die Rechte der Personen zu verletzen.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Marlene Berninger
siciliamigranti.blogspot.com ist ein italienischsprachiges Monitoringprojekt zur Situation der Flüchtlinge in Sizilien, dort finden Sie die Original-Berichte, hier finden Sie die deutschen Übersetzungen. Klicken Sie auf die auf die Namen der Schlagworte (keywords), wenn Sie bestimmte Themen suchen.