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Donnerstag, 26. Mai 2016

Ein weiterer Schiffbruch und tausende in Augusta, Catania und Pozzallo gelandete Migrant*innen

Zweitausend aus dem Meer gerettete Migrant*innen innerhalb der letzten 48 Stunden. Die Zielhäfen sind alle auf Sizilien: Catania, Augusta, Pozzallo, Palermo. Es folgen Informationen über die Orte und Zeitpunkte des Anlegens, über die Zahl der Migrant*innen, die an Land gehen werden  und über ihre Nationalitäten. Es sind mittlerweile fast zensierte Nachrichten, die uns routinemäßig erreichen und die seit Jahren nur eine kleine Spur des historischen und dramatischen Zeitpunktes, den wir durchleben, hinterlassen. Am 24. Mai sind 402 Migrant*innen an Bord des Schiffes „Bourbon Argos“ von Ärzte ohne Grenzen im Hafen von Pozzallo angekommen: Sie sind losgefahren von der libyschen Stadt Sabrata, sind in drei Rettungsaktionen aufgesammelt und begleitet worden, und dann Richtung Festland gebracht, mit allen notwendigen Aufmerksamkeiten, die menschlicherweise denen gebühren, die sich in einer solchen Situation befinden.
Foto: Lucia Borghi



Das ist leider nicht immer garantiert auf den Booten des Militärs, wo Befragungen und Kontrollen erste Priorität zu haben scheinen und wo auch das Hotspot-Konzept immer schneller implementiert wird. Wenn man die Migrant*innen von Bord gehen und sich den Prozeduren an den Kais unterziehen sieht, dann scheint es allerdings, dass ihre „Aufnahme“ ein noch zu definierender Begriff sei. Schwangere Frauen und Menschen mit besonders kritischem Gesundheitszustand werden sofort ins Krankenhaus gebracht, währen die anderen wie üblich in einer Reihe das Schiff verlassen, um dann erste Fotos von ihnen zu machen und sie zu den Bussen zu schicken. Viele sind barfuß und das bleiben sie auch, denn Schlappen werden erst im Hotspot ausgegeben. Dort werden dann 202 von ihnen bleiben und sich den circa zwanzig unbegleiteten Minderjährigen anschließen, die sich seit dem ersten Mai im Hotspot befinden, obwohl eigentlich vom Gesetz ein Aufenthalt von höchstens 72 Stunden vorgesehen ist. Betreiber der Struktur bleibt die Cooperativa Azione Sociale, aufgrund einer kürzlich von der Präfektur beschlossenen Verlängerung. Die Ordnungskräfte führen sofort sehr gründliche Durchsuchungen mit Metalldetektoren durch und beschlagnahmen den Großteil der wenigen Habseligkeiten, die sie finden. Am Kai befragen verschiedene Beamt*innen von Frontex und der Polizei die Migrant*innen, die hauptsächlich aus dem subsaharischen Afrika kommen; unter ihnen ein paar junge Männer aus Eritrea, einige nigerianische Frauen und circa dreißig unbegleitete Minderjährige. Heute übernimmt jedoch nur das UN-Flüchtlingskommissariat die Versorgung mit rechtlichen Informationen, und zwar an Bord der Busse, die die Migrant*innen zum ein paar hundert Meter entfernten Hotspot bringen. Am Hafen ist auch das Team von Emergency, das die Ärzte von ASP* und vom Roten Kreuz unterstützt und das ein weiteres Gesundheitsscreening in den Bussen direkt hinter dem Hotspot durchführt. Wir wissen, dass circa hundert Migrant*innen nach Apulien gebracht werden und ebenso viele nach Kampanien, während im Hotspot weiter Identifikationen und Befragungen durchgeführt werden: Sorgen über die angewandten Methoden und über das Fehlen von individuellem Schutz bleiben groß, auch aufgrund der jüngsten Fälle von Gewaltanwendung und der Ausübung psychischen Drucks, die uns zu Ohren kamen.
Fast alle der 398 der Migrant*innen, die am Dienstag mit dem irischen Boot „Roisin“ in Catania angekommen sind, wurden ins Aufnahmezentrum von Mineo gebracht. Sie sind erneut überwiegend eritreischer und äthiopischer Herkunft, gemeinsam mit anderen Geflüchteten aus dem subsaharischen Afrika. Unter ihnen sind mehrere Familien und einige kleine Kinder, circa zehn unbegleitete Minderjährige warten noch am Hafen auf eine geeignete Unterkunft. Es werden wirklich viele Fälle von Krätze registriert und wir fragen uns, ob in Mineo gleich eine angemessene Behandlung erfolgt. Am Hafen sind das UN-Flüchtlingskommissariat, IOM* und Save the Children anwesend, die es sogar schaffen, in den Bussen rechtliche Informationen auszugeben, die nach Mineo fahren, was mittlerweile wie ein Hotspot genutzt wird. Einige Fragen an die Migrant*innen wurden allerdings bereits von Ordnungskräften in Momenten großer Verwirrung und Stress nach der Landung gestellt. Wir hoffen, dass diese Fragen nicht auf irreversible und unrechtmäßige Weise ihre Zukunft in Europa beeinträchtigen. Gleichzeitig zu diesen Ankünften haben auch 509 Migrant*innen an Bord des Schiffes „Durand De La Penne“ der französischen Marine in Augusta angelegt: von ihnen wissen wir noch nicht die genaue Herkunft und die momentane Unterkunft, aber wir wissen, dass ihnen in diesen Stunden tausende Menschen in Not nach Italien folgen. Währenddessen steigt weiterhin die Zahl derer, die es nicht geschafft haben: ein umgekipptes Gummiboot an der libyschen Küste habe den Tod von mindestens 5 Migrant*innen gefordert, und das während Rettungsaktionen, die noch geklärt werden müssen. Es sind Leben, die Zahlen bleiben, genau wie die derer, die ankommen: jede Rettungsaktion schickt tatsächlich hunderte Menschen zurück, die tragischerweise riskierten, zu sterben und dies wahrscheinlich auch in Zukunft tun werden. Denn die momentane Organisation unserer demokratischen Gesellschaften bringt unerträgliche Lebenssituationen für diejenigen mit sich, die auf anderen Teilen der Erde geboren wurden. Es ist eine Wahrheit, die so offensichtlich wie unaussprechlich ist und die sich auf die Banalisierung der täglichen Massensterben stützt, verheimlicht oder gehandhabt als handle es sich um Ausnahmezustände, wenn sie in größter medialer Aufmerksamkeit stehen, um dann aber wieder in die Gleichgültigkeit zu fallen, und niemals eingeordnet werden in das System, das diese Zustände mitbegründet hat. Es scheint von Seiten der Institutionen unmöglich zu sein, wahrheitsgetreue Erklärungen zu liefern, die nicht im Kontrast zu humanitären Pflichten stehen und zum Gesetz, um die Fluchtursachen und das Sterben Tausender und Abertausender Männer, Frauen und Kinder zu begründen. Auch für die entwürdigenden und unrechtmäßigen Behandlungsmethoden gibt es keine Erklärung, denen sich viele der in Italien ankommenden Migrant*innen unterziehen müssen, angefangen mit den willkürlichen Behandlungen von unbegleiteten Minderjährigen, die regelmäßig wochenlang in den Hotspots von Pozzallo und Lampedusa ausharren müssen. Es ist also besser, sich an inakzeptablen Rechtfertigungen festzuklammern, mögliche und nervige Zeugen weit weg von sich zu halten und immer mehr jene zu ghettoisieren, von denen man eigentlich sagt, man nehme sie auf. Es ist aber vor allem besser,  Diskurse zu konstruieren, mit dem Zweck ein gewisses Bild der Migrant*innen zu erschaffen und dann der öffentlichen Meinung zu servieren. Wenn Migrant*innen nicht mehr als Personen wahrgenommen werden, siegt die Konvention, dass die Situation, in der diese sich befinden und in ihr gehalten werden, „normal“ sei. Das Sterben oder die Abschiebung einiger von ihnen in die Länder, aus denen sie auf so verzweifelte Weise versucht haben zu flüchten, erregt kein Aufsehen mehr. Man stelle sich nur die Verzweiflung derjenigen vor, die ohne Grund dreizehn bis fünfzehn Jahre eingesperrt werden, nachdem sie der furchtbaren Überfahrt entkommen sind. Es gilt also, nicht nachzudenken oder zu beobachten. Zumindest bis nicht auch unsere eigenen Interessen angegriffen werden.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*Asp - regionale Gesundheitsbehörde
*OIM - Internationale Organisation für Migrant*innen

aus dem Italienischen von Sophia Bäurle