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Dienstag, 22. Dezember 2015

Die Wahrheit über das Hot Spot-System – Rechtsverletzungen und Illegalität auf Lampedusa – Die Anklage der Unterstützer

In den letzten Wochen sind in Palermo, aber auch in Catania und weiteren sizilianischen Städten, dutzende von Personen aus Mali, Gambia, Pakistan, Somalia, Eritrea und Nigeria angekommen, die nur mit einer Verfügung zur „verzögerten Abschiebung“ in den Händen, welcher sie auffordert, das italienische Staatsgebiet über Roma Fiumicino innerhalb von 7 Tagen zu verlassen. Sie kommen alle von der Insel Lampedusa, auf die sie gebracht wurden nachdem sie auf offenem Meer aufgegriffen wurden.
Diesen Migrant*innen wurde es nicht erlaubt einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, obwohl sie mit dem Hohen Kommissariat der Vereinigten Nationen für Geflüchtete in Kontakt getreten sind.

Sie berichten, dass sie über die Möglichkeit der Asylbeantragung informiert worden seien, jedoch nicht die Gelegenheit bekommen hätten, dies wirklich zu tun.
Sie berichten hingegen, dass sie gezwungen wurden ein Dokument zu unterschreiben, dessen Inhalt sie nicht verstehen konnten, da er in einer ihnen fremden Sprache verfasst war (wobei jedoch in der Fußzeile der Verordnung absurderweise immer steht, dass der „Betroffene sich weigert zu unterschreiben“ und dies, weil es sich um vorgedruckte Dokumente handelt die in Serie produziert werden).
Sie berichten, dass sie erkennungsdienstlich erfasst wurden und mit anderen Migrant*innen auf ein Schiff in Richtung Porto Empedocle gebracht wurden. An Bord wurden sie dann in Gruppen unterteilt. Die Kriterien dafür sind bis heute unergründlich.
Danach wurden sie im Bahnhof von Agrigento oder in anderen kleineren Bahnhöfen im Umland von Agrigento sich selbst überlassen, mit nur der Verfügung zur „verzögerten Abschiebung“ in der Tasche.
Eine widrige Verordnung, gegen die die Anwälte des Unterstützungsnetzwerks bereits Widerspruch eingelegt haben, da sie unrechtmäßig und verfassungswidrig ist.
In der Zwischenzeit werden hunderte von Migrant*innen, zum größten Teil aus Eritrea stammend, unerlaubt auf Lampedusa festgehalten, weil sie sich weigern, ihre Fingerabdrücke digital erfassen zu lassen. Dies nicht, weil sie etwas zu verbergen haben, sondern weil sie ihre Lieben in den anderen Ländern der Europäischen Union erreichen wollen, ohne in dem System des sogenannten Dubliner Abkommens III gefangen zu bleiben oder in dem zweifelhaften Versprechen einer Umsiedlung, welche bisher nur in sehr wenigen Fällen stattgefunden hat und von der Regierung hauptsächlich aus propagandistischen Gründen ausgeführt wird.
Europa benutzt die Rhetorik der Aufnahme der Geflüchteten um auf dramatische Weise seinen Krieg gegen die Migrationen aus dem Süden der Welt weiterführen zu können.
Dies sind die ersten Folgen der Einführung der Hot Spots, welche Lampedusa wieder einmal zur Versuchskulisse einer verschärften Migrationspolitik und neuartiger Verletzungen der Grundrechte macht.
Die Nachrichten beziehen sich auch auf die Herausgabe von Multiple-Choice-Formularen (sogenannte fogli notizie), die, dort wo sie nicht von den Betroffenen ausgefüllt wurden, von nicht besser identifizierten Beamten Italiens und der EU vervollständigt werden. Auf der Basis dieser Formulare wird endgültig entschieden, wer Asyl beantragen darf und wer nicht.
In erster Linie ist es das Recht Asyl beantragen zu dürfen, welches also durch dieses System annulliert wird: Ein individuelles, unabdingbares Recht, welches überall und von jeder Person eingefordert werden darf, unabhängig von Herkunft und Nationalität. Ein Recht, das komplett verweigert wird in dem Moment, in dem man innerhalb weniger Tage und nur auf Grundlage der Nationalität entscheiden will, wer an den Prozeduren der Anerkennung auf Schutz teilnehmen darf und wer wiederrum „illegalisiert“ werden soll, gemeinsam mit den tausenden abgelehnten Asylbewerbern, die aufgrund der klaren Regierungsanweisungen immer mehr werden. Immer öfter werden diese Personen nach einem Antrag auf Schutz Adressaten von Ausweisungsverfügungen, indem die Anträge willkürlich als „offensichtlich unbegründet“ abgestempelt werden.
Dies ist der Punkt: Nach einer chaotischen Zeit der Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik wird die funktionelle Trennung zwischen „echten“ und „falschen“ Geflüchteten jetzt für die „Illegalisierung“ der Geflüchteten benutzt. Somit werden die marginalisierten und ausgebeuteten Massen der Unsichtbaren wieder verdichtet, um dann den sozialen oder gesundheitlichen Notstand angesichts der Folgen dieser unrechtmäßigen und unverantwortlichen Entscheidungen auszurufen.
Der einzige Notstand, wenn man den Rückgang der Ankünfte über die Route des zentralen Mittelmeers und seit dem Jahr 2008 bis heute der Eingänge über die traditionellen Einwanderungsländer bedenkt, besteht, zusammen mit den Todesfällen an den Grenzen Europas, aus der Illegalität und der Ungerechtigkeit des angewandten Systems.
Davon ausgehend, dass die einzig kohärente, rationale und auch gerechte Migrationspolitik die Öffnung von legalen Zugängen wäre, welche die Menschen vor den Schleppern und dem Tod an den Grenzen bewahren würde und ihnen ermöglichen würde sicher und legalisiert nach Europa zu gelangen ohne sich verstecken zu müssen,
fordern wir nun mit Dringlichkeit,
  • dass alle Migrant*innen an jedem Ort in Italien sofortigen und effektiven Zugang zu dem Antrag auf internationalen Schutz erhalten;
  • dass alle bis heute auf der Basis des Hot-Spot-Systems in Lampedusa ausgeteilten Abschiebungsverfügungen zurückgezogen werden;
  • dass das Zentrum in Lampedusa mit sofortiger Wirkung geschlossen wird und auf die Eröffnung von weiteren Zentren verzichtet wird, da diese über keinerlei Rechtsgrundlage verfügen, höchstens über Entscheidungen von der Europäischen Kommission und des Europarates. Die Zentren basieren strukturell auf der Aufhebung des Asylrechts und auf der Verletzung der Rechte aller Migrant*innen;
  • dass mit sofortiger Wirkung die Praxis der Ausstellung von Abschiebungsverfügungen, in dem Moment in dem der Antrag von Asylsuchenden als offensichtlich unbegründet erklärt wurde, eingestellt wird;
  • dass keine Gewalt bei der Erfassung von digitalen Fingerabdrücken autorisiert wird und der italienische Staat gegenüber Europa die Annullierung der Dubliner Verordnung in allen ihren Ausführungen fordert;
  • dass man mit sofortiger Wirkung aus den Rückführungsabkommen mit den Herkunfts- und den Transitländern zurücktritt, die in den meisten Fällen aus einer Verhandlung von Italien und der EU mit Diktatoren und Henkern besteht und nur einer formellen Absicherung des Abschiebungsverfahrens und der kollektiven Abschiebungen dienen.
Erstunterzeichner: Borderline Sicilia Onlus, Centro salesiano Santa Chiara di Palermo, Circolo Arci Porco Rosso di Palermo, Ciss – Cooperazione Internationale Sud Sud, Comitato antirazzista Cobas (Palermo), Comitato NoMuos/NoSigonella, Forum Antirazzista di Palermo, La cittá Felice (Ct) – Le città vicine, L´Altro Diritto Sicilia, Laici Missionari Comboniani, Palermo senza frontiere, Rete Antirazzista Catanese
Für Unterzeichnungen: forumantirazzistadipalermo@gmail.com


Übersetzung aus dem Italienischen von Linde Nadiani