In den letzten Wochen
sind in Palermo, aber auch in Catania und weiteren sizilianischen Städten,
dutzende von Personen aus Mali, Gambia, Pakistan, Somalia, Eritrea und Nigeria
angekommen, die nur mit einer Verfügung zur „verzögerten Abschiebung“ in den
Händen, welcher sie auffordert, das italienische Staatsgebiet über Roma
Fiumicino innerhalb von 7 Tagen zu verlassen. Sie kommen alle von der Insel Lampedusa,
auf die sie gebracht wurden nachdem sie auf offenem Meer aufgegriffen wurden.
Diesen Migrant*innen
wurde es nicht erlaubt einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, obwohl
sie mit dem Hohen Kommissariat der Vereinigten Nationen für Geflüchtete in
Kontakt getreten sind.
Sie berichten, dass
sie über die Möglichkeit der Asylbeantragung informiert worden seien, jedoch
nicht die Gelegenheit bekommen hätten, dies wirklich zu tun.
Sie berichten hingegen,
dass sie gezwungen wurden ein Dokument zu unterschreiben, dessen Inhalt sie
nicht verstehen konnten, da er in einer ihnen fremden Sprache verfasst war (wobei
jedoch in der Fußzeile der Verordnung absurderweise immer steht, dass der
„Betroffene sich weigert zu unterschreiben“ und dies, weil es sich um
vorgedruckte Dokumente handelt die in Serie produziert werden).
Sie berichten, dass
sie erkennungsdienstlich erfasst wurden und mit anderen Migrant*innen auf ein Schiff
in Richtung Porto Empedocle gebracht wurden. An Bord wurden sie dann in Gruppen
unterteilt. Die Kriterien dafür sind bis heute unergründlich.
Danach wurden sie im
Bahnhof von Agrigento oder in anderen kleineren Bahnhöfen im Umland von
Agrigento sich selbst überlassen, mit nur der Verfügung zur „verzögerten
Abschiebung“ in der Tasche.
Eine widrige
Verordnung, gegen die die Anwälte des Unterstützungsnetzwerks bereits Widerspruch
eingelegt haben, da sie unrechtmäßig und verfassungswidrig ist.
In der Zwischenzeit
werden hunderte von Migrant*innen, zum größten Teil aus Eritrea stammend, unerlaubt
auf Lampedusa festgehalten, weil sie sich weigern, ihre Fingerabdrücke digital
erfassen zu lassen. Dies nicht, weil sie etwas zu verbergen haben, sondern weil
sie ihre Lieben in den anderen Ländern der Europäischen Union erreichen wollen,
ohne in dem System des sogenannten Dubliner Abkommens III gefangen zu bleiben oder
in dem zweifelhaften Versprechen einer Umsiedlung, welche bisher nur in sehr
wenigen Fällen stattgefunden hat und von der Regierung hauptsächlich aus
propagandistischen Gründen ausgeführt wird.
Europa benutzt die
Rhetorik der Aufnahme der Geflüchteten um auf dramatische Weise seinen Krieg
gegen die Migrationen aus dem Süden der Welt weiterführen zu können.
Dies sind die ersten
Folgen der Einführung der Hot Spots, welche Lampedusa wieder einmal zur Versuchskulisse
einer verschärften Migrationspolitik und neuartiger Verletzungen der
Grundrechte macht.
Die Nachrichten beziehen
sich auch auf die Herausgabe von Multiple-Choice-Formularen (sogenannte fogli
notizie), die, dort wo sie nicht von den Betroffenen ausgefüllt wurden, von nicht
besser identifizierten Beamten Italiens und der EU vervollständigt werden. Auf der
Basis dieser Formulare wird endgültig entschieden, wer Asyl beantragen darf und
wer nicht.
In erster Linie ist es
das Recht Asyl beantragen zu dürfen, welches also durch dieses System annulliert
wird: Ein individuelles, unabdingbares Recht, welches überall und von jeder
Person eingefordert werden darf, unabhängig von Herkunft und Nationalität. Ein
Recht, das komplett verweigert wird in dem Moment, in dem man innerhalb weniger
Tage und nur auf Grundlage der Nationalität entscheiden will, wer an den
Prozeduren der Anerkennung auf Schutz teilnehmen darf und wer wiederrum „illegalisiert“
werden soll, gemeinsam mit den tausenden abgelehnten Asylbewerbern, die
aufgrund der klaren Regierungsanweisungen immer mehr werden. Immer öfter werden
diese Personen nach einem Antrag auf Schutz Adressaten von Ausweisungsverfügungen,
indem die Anträge willkürlich als „offensichtlich unbegründet“ abgestempelt werden.
Dies ist der Punkt:
Nach einer chaotischen Zeit der Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik
wird die funktionelle Trennung zwischen „echten“ und „falschen“ Geflüchteten jetzt
für die „Illegalisierung“ der Geflüchteten benutzt. Somit werden die marginalisierten
und ausgebeuteten Massen der Unsichtbaren wieder verdichtet, um dann den
sozialen oder gesundheitlichen Notstand angesichts der Folgen dieser unrechtmäßigen
und unverantwortlichen Entscheidungen auszurufen.
Der einzige Notstand,
wenn man den Rückgang der Ankünfte über die Route des zentralen Mittelmeers und
seit dem Jahr 2008 bis heute der Eingänge über die traditionellen Einwanderungsländer
bedenkt, besteht, zusammen mit den Todesfällen an den Grenzen Europas, aus der
Illegalität und der Ungerechtigkeit des angewandten Systems.
Davon ausgehend, dass
die einzig kohärente, rationale und auch gerechte Migrationspolitik die Öffnung
von legalen Zugängen wäre, welche die Menschen vor den Schleppern und dem Tod an
den Grenzen bewahren würde und ihnen ermöglichen würde sicher und legalisiert
nach Europa zu gelangen ohne sich verstecken zu müssen,
fordern wir nun mit
Dringlichkeit,
- dass alle Migrant*innen an jedem Ort in Italien sofortigen und effektiven Zugang zu dem Antrag auf internationalen Schutz erhalten;
- dass alle bis heute auf der Basis des Hot-Spot-Systems in Lampedusa ausgeteilten Abschiebungsverfügungen zurückgezogen werden;
- dass das Zentrum in Lampedusa mit sofortiger Wirkung geschlossen wird und auf die Eröffnung von weiteren Zentren verzichtet wird, da diese über keinerlei Rechtsgrundlage verfügen, höchstens über Entscheidungen von der Europäischen Kommission und des Europarates. Die Zentren basieren strukturell auf der Aufhebung des Asylrechts und auf der Verletzung der Rechte aller Migrant*innen;
- dass mit sofortiger Wirkung die Praxis der Ausstellung von Abschiebungsverfügungen, in dem Moment in dem der Antrag von Asylsuchenden als offensichtlich unbegründet erklärt wurde, eingestellt wird;
- dass keine Gewalt bei der Erfassung von digitalen Fingerabdrücken autorisiert wird und der italienische Staat gegenüber Europa die Annullierung der Dubliner Verordnung in allen ihren Ausführungen fordert;
- dass man mit sofortiger Wirkung aus den Rückführungsabkommen mit den Herkunfts- und den Transitländern zurücktritt, die in den meisten Fällen aus einer Verhandlung von Italien und der EU mit Diktatoren und Henkern besteht und nur einer formellen Absicherung des Abschiebungsverfahrens und der kollektiven Abschiebungen dienen.
Erstunterzeichner: Borderline Sicilia Onlus, Centro salesiano Santa Chiara
di Palermo, Circolo Arci Porco Rosso di Palermo, Ciss – Cooperazione
Internationale Sud Sud, Comitato antirazzista Cobas (Palermo), Comitato
NoMuos/NoSigonella, Forum Antirazzista di Palermo, La cittá Felice (Ct) – Le
città vicine, L´Altro Diritto Sicilia, Laici Missionari Comboniani, Palermo
senza frontiere, Rete Antirazzista Catanese
Für Unterzeichnungen: forumantirazzistadipalermo@gmail.com
Übersetzung aus dem
Italienischen von Linde Nadiani