Schon lange haben wir das Gefühl, dass die Toten gar keinen Eindruck mehr hinterlassen, sie empören uns nicht mehr, zumindest nicht wenn es nicht viele sind!
Aber bei 700 Toten auf einmal wachen wir nun auf, wir machen uns auf zum Steg, um dann zu unserem eigenen Leben zurückzukehren, gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass wir die Komplizen deren sind, die ganze Familien zerstören.
Wie das Leben von Rahel, 16 jährige Eritreerin, die mit aller Kraft gekämpft und sich an dieses sehr kurze, grausame Leben geklammert hat, um es vor zwei Tagen doch aufzugeben. Rahel ist eines der Opfer dieses Todessystems, das von Europa und den Regierungen erschaffen wurde und weiter Migranten unterdrückt, die in Italien ankommen.
Rahel ist mit Verbrennungen am ganzen Körper in Italien angekommen und trotz ihres Lebenswillen, trotz ihren Mutes sich dem Meer zu stellen, den Schleppern und schließlich der italienischen und europäischen Politik, ist sie in stillem Schweigen von uns gegangen.
Rahel ist allein gestorben. Ohne Vater oder Mutter, die eine 16jährige bei sich wollen würde in den Momenten größter Not.
Das Leben ist für Rahel nicht glücklich gewesen: Erst haben wir einen Raubzug durch ihr kostbares und reiches Land gemacht und sie blutrünstigen Diktatoren und multinationalen Großkonzernen anvertraut, um unseren Bedarf an Rohöl und Erzen zu decken und so eine ganze Region zu destabilisieren. Und am Ende haben wir sie den Schleppern überlassen, die sie grausam geschlagen und vergewaltigt haben.
Das gleiche geschieht vielen anderen, die neue Wege suchen einem Land zu entfiehen, das wir zerstört und den Großkonzernen übergeben haben, die, wie es ihnen gefällt, über Ressourcen und Menschen bestimmen, die von ihnen nur als zu beseitigendes Hindernis angesehen werden. Wie Solomon, ein junger Äthiopier, der bei dem Versuch gestorben ist, auf den Straßen Sizilien eine bessere Zukunft zu finden, wo er sich herum getrieben hat, trotz seines schlechten gesundheitlichen Zustandes.
Wie Patrick, der seit 3 Jahren in bedenklichem gesundheitlichen Zustand mit der italienischen Bürokratie kämpft.
Wie Ibra, den wir allein in einem Krankenhausbett zurück gelassen haben, ohne das jemand ihm seinen gesundheitlichen Zustand erklärt, zumindest für die Einrichtungsverwaltung lohnt es sich, sie spart kosten. Und sollte Ibra sterben, wen interessiert es “ein anderer, der in die Einrichtung einzieht, wird sich finden” für weitere sichere 35€ am Tag.
Wie Salam, gelähmt bleiben wird, weil er ihn Libyen so viel abbekommen hat, dass sie ihm die Wirbelsäule gebrochen haben.
Wie Moussa, der sich nach Rückschiebungen erhängte, nachdem er als Dublin Fall aus Norwegen und Deutschland zurückgeschoben wurde und nicht mehr die Kraft hatte unter einem Bogengang irgendeiner italienischen Stadt zu schlafen, denn das ist das höhnische Schicksal, das viele Dublin-Fälle erleiden. Für sie gibt es keinen Platz in den „Zentren der Nicht-Aufnahme“.
Diese Liste, die leider jeden Tag aktualisiert wird kann bis ins Unendliche weitergeführt werden, denn die Fälle von Vernachlässigung, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt gegenüber Migranten reißen nicht ab, genau wie die Neuankünfte.
Allein in den letzten Stunden erreichen 7000 Migranten Italien. Sie fliehen vor den Grausamkeiten in Libyen, vor der Gewalt, vor Schlägen, vor Missbräuchen, um im Meer zu sterben. 40 lautet die Zahl der bestätigten Toten, aber wie wir wissen, sind es viele mehr, die im Meer verschollen bleiben. Die Ankünfte zählen 870 Personen in Pozzallo, 675 in Augusta, 400 in Messina, 320 in Trapani und 1700 auf Lampedusa. (Für die nächsten Stunden sind weitere Ankünfte von Migranten für Palermo vorgesehen.)
Für diese Toten und für jene, die in den Aufnahmezentren und unserer Städte sterben werden, verlassen, verborgen vor unseren Augen, wird es keine Gedenkfeier geben, kein ökumenisches Gebet, keine Demonstration, denn sie erregen kein Aufsehen, von ihnen nimmt keiner Notiz.
Das Leben der Migranten zählt, wenn wir die Möglichkeit haben aus ihnen Profit zu schlagen, ansonsten hat es keinen Wert. Wir quartieren sie ein, ghettoisieren sie, so wie die Ordnungskräfte es tun, wenn sie sie von Lampedusa nach Porto Empedocle verlegen.
Dicht gedrängte junge Menschen auf einem sehr begrenzten Platz, ohne jede Möglichkeit zu interagieren. Warum? Sicher gefährlich, sagt Salvini, sicher wäre es besser gewesen, hätte man die Boote schon vor ihrer Abfahrt bombardiert, sodass sie es nicht einmal geschafft hätten auf Lampedusa anzukommen. Sie in Afrika sterben lassen, damit unsere Nächte ruhiger sind. Die Drecksarbeit die ISIS machen lassen und morgen die gegnerische Gruppe finanzieren, damit wir uns nicht die Hände schmutzig machen.
Wir sind so gut darin uns der Dinge anderer zu bemächtigen, wir sind so gut und legen so viel Wert auf diese Migranten, denn jetzt geben wir auch den Kindern, die im Meer geboren wurden Namen. Wie im letzten Fall von Francesca Marina, sicher der passendste Name für ein afrikanisches Mädchen, der Name, den ihre Mutter für sie gewählt hätte!
Jetzt wird man in den Zeitungen und im Fernsehen von Francesca Marina sprechen, von der hundertsten Heuchelei unserer so “zivilen” Welt, denn das bringt mehr Zuschauer, als der stille Tod von Rahel, eine weitere Tote, von der niemand etwas mitbekommt.
Von Alberto Biondo
für Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Viktoria Langer