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Samstag, 29. November 2014

Weiterhin kommen hunderte von Migranten an. Sie erzählen von den vielen, die die Reise nicht beenden. Wie lange wird man noch von einem Ausnahmezustand sprechen?


Wir haben Ende November und allein in den letzten fünf Tagen sind rund 1000 Migranten an den Küsten Ostsiziliens angekommen. Hauptanlandungsplätze sind die Häfen von Augusta und Pozzallo. „Ich wollte nicht weg, aber ich konnte nicht bleiben“, sagt mir M., dem ich in der Zeltstadt im Hafen von Augusta begegne. Gerade ist er zusammen mit weiteren 318 Personen angekommen. „Auf jeden Fall halte ich mich für einen glücklichen Menschen: Erst vor ein paar Tagen habe ich von einigen Flüchtlingen wie mir gehört, die vor Ankunft der Rettung im Meer verschwunden sind.“
Die Nachricht stammt von Dienstag, von den 94 Migranten, die am Sonntag, dem 23.November in Augusta angekommen sind. 10 Personen sind bei dem Versuch, das Handelsschiff zu erreichen, das die anderen gerettet hat, ertrunken. Die Fassung, mit der M. von den Gefahren spricht, die er durchlebt hat, ist beeindruckend. Sie müsste jene Mauer der Gleichgültigkeit bei dem einreißen, der jetzt nur die Zahlen in Betracht zieht, derjenigen, die ankommen und derjenigen, die nicht ankommen, der bei den eher statistischen Erwägungen verweilt als bei denen, die über die drei Ziffern hinausgehen.

M. ist vor zwei Jahren aus Benin aufgebrochen, einem kleinen Staat in Westafrika, mit dem Diplom in der Tasche auf der Suche nach einem würdigen Leben. Aber einmal seines Reisepasses beraubt, hat sich seine Reise zu einem täglichen Kampf ums Überleben verändert. „Ich bin zusammen mit meinem Bruder zu einer wichtigen und offensichtlich sicheren Arbeit nach Libyen gerufen worden. Ich habe als Bühnenbildner gearbeitet und gedacht, ich hätte endlich einen Ort gefunden, an dem ich bleiben könnte, ohne Hunger zu riskieren. Aber Libyen ist die Hölle. Vor allem für denjenigen, der schwarze Haut hat.“ Bewaffnete Banden, Bedrohungen, Attentate, Schlägereien und Diebstähle, ohne Behörden, die ein Mindestmaß an Sicherheit garantieren könnte. Vor wenigen Monaten hat M. seinen Bruder verloren, ermordet von einer Bande von Dieben, die sein Handy haben wollten. Seitdem lebt er ohne Papiere und ohne eine Institution, die er um Schutz bitten könnte, in einem Gefängnis unter freiem Himmel, schlimmer noch: Auf einem Schlachtfeld. So hat er sich entschlossen wegzugehen. „Besser auf dem Meer sterben als im Knast durch Prügel.“ Gemeinsam mit M. haben heute viele andere, noch sehr junge Männer gedacht, dass sie es geschafft haben, zumindest für den Augenblick. Sie kommen aus Somalia, Eritrea, aus Schwarzafrika und viele der Anwesenden hoffen, dass sich für sie die lange Odyssee zwischen den Lagern nicht wiederholt, die die Minderjährigen erlebt haben, die vor ihnen in diesem Sommer angekommen sind. Jugendliche, die für Monate im Ungewissen bleiben, verschoben von einem Zentrum zur Erstaufnahme in ein anderes, bevor sie auch nur mit der Prozedur beginnen können, Dokumente zu beantragen. Von den 319 Flüchtlingen, die heute angekommen sind, wurden einige nach Messina verlegt, andere in das Zentrum Umberto I. in Syrakus, während die Einrichtungen für Minderjährige in der Region schon fast voll sind und die Jugendlichen wahrscheinlich nach Priolo, Caltagirone und Melilli verschickt werden, auch wenn dieses letztgenannte Zentrum schon mehr als hundert Minderjährige beherbergt. Die Monate gehen ins Land, die Einrichtungen wechseln, aber an der prekären Organisation scheint sich nichts zu ändern. Darüber hinaus wird das Mandat für einige Organisationen, unter ihnen Terres des Hommes, Emergency und MSF (Ärzte ohne Grenzen) in Kürze auslaufen. Sie haben, neben den Mitarbeitern von Praesidium [ein Verbund von UNHCR, IOM, italienischem Roten Kreuz, Save the Children, Anm. der Red.], ihre medizinische und psychologische Unterstützung den lokalen Gesundheitsdiensten ASP und den Mitarbeitern der Zentren zur Verfügung gestellt. Jetzt stellen sie noch deutlicher die Frage, was man in diesem Jahr geschafft hat und, mehr denn je, wie die Zusammenarbeit aussehen soll.

„Wir sind seit einem Jahr auf der Flucht. Am Ende haben wir uns dafür entschieden, von Libyen aus aufzubrechen“, erzählt C., ein Nigerianer, der zusammen mit vier Freunden abgehauen ist. Meine Fingerabdrücke habe ich abgegeben, weil es nicht anders ging. Aber ich will wissen, was mich erwartet. In Libyen gab es viele Syrer, die gesagt haben, dass sie nicht in Italien bleiben wollen und ich hoffe, dass mir nichts zustößt.“ Aber auch für die Syrer bleibt Italien einer der wenigen Wege der Flucht und der Hoffnung. In großer Anzahl sind sie zusammen mit ihren Familien am Vormittag des 28.November im Hafen von Pozzallo angekommen, nachdem sie von einem Handelsschiff unter türkischer Flagge gerettet worden waren. Sie sind zwischen den Containern mit Waren in Sicherheit gebracht worden. Es sind 251, Männer, Alte, Frauen und auch noch sehr kleine Kinder, die von der ganzen Mannschaft am Arm auf den Landungssteg begleitet werden. Ihre Herkunftsländer sind Syrien, Palästina, Irak; und allein diese Namen verweisen auf Krieg und Zerstörung. Aber für das Aufnahmesystem besteht noch immer der Ausnahmezustand, mit der Ankündigung einer neuen Anlandung am Nachmittag im Hafen von Augusta, mit den Verlegungen und mit der Suche nach Plätzen in den Zentren.

Die Geschichte von M. und die aktuelle dramatische Situation in Libyen, Syrien, Palästina - wie wenig wissen wir von dem, was einem Menschen widerfährt, der flieht? Oder wie schnell vergisst die Öffentlichkeit Somalia, Eritrea, Nigeria, Sudan und alle jene Länder, die in Bergwerke verwandelt wurden, die man ausbeutet und derer man sich nur von Zeit zu Zeit mitfühlend erinnert, besonders in Wahlkämpfen? Es handelt sich nicht um theoretische und rhetorische Diskurse, die damit enden, dass man wie von ferne etwas betrachtet, um nicht zu sehen, was hier passiert. Die historische Kenntnis ist notwendig, um die Situation besser zu verstehen, die Situation dessen, der ankommt und unsere, die wir schon da sind; und sich bewusst zu machen, wie ernst und zweckmäßig es für bestimmte Interessen ist, noch immer von „Ausnahmezustand“ zu sprechen.

Denn auch in dieser Woche waren die am meisten gehörten und zwischen den verschiedenen Akteuren der sogenannten Aufnahme hin und her gespielten Diskussionsthemen der „Ausnahmezustand“, der „Mangel an Plätzen in den Einrichtungen“, die „oberflächliche Vorbereitung von manchen Mitarbeitern und die unsichere Lage einiger Dienstleistungen, die durch das gute Herz Einzelner gerettet werden“. Inakzeptable Diskurse, wenn man von Menschenleben spricht und von Menschenrechten; Vorboten weiterer Gewalt gegenüber demjenigen, der selten eine Stimme hat, um sich zu verteidigen. Rechtfertigungen, die inakzeptabel sind, deren Unhaltbarkeit man aber aufzeigen muss, um jeden von uns dazu zu bringen, dass er seine eigene Verantwortung übernimmt.


Lucia Borghi
Borderline Sizilien

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber