Giacomo Sferlazzo. (Bild: NZZ / Annick Ramp) |
Wenn man sich einen italienischen Linksaktivisten vorstellt, dann so: Mit dunkler Wolljacke, Ethno-Schmuck und wild wucherndem Bart. Wie Giacomo Sferlazzo. Der 34-Jährige springt an der diesjährigen 1.-Mai-Kundgebung als Redner ein, nachdem die Bürgermeisterin von Lampedusa ihren Auftritt hatte absagen müssen. Sferlazzo war ursprünglich als Musiker eingeladen worden. In der Tradition italienischer Barden singt er melancholische Lieder von Freiheit und Liebe. Doch auch er kann aus erster Hand erzählen, wie es ist, tagtäglich mit dem Leid von Tausenden von Migranten konfrontiert zu sein – er ist auf Lampedusa aufgewachsen.
Wenn Sferlazzo von seiner Heimat erzählt, wird er zum Romantiker. Die Insel habe etwas Magisches, sagt er. «Alles rundherum ist Meer und Himmel. Man befindet sich in der Unendlichkeit.» Lange wusste kaum jemand von der Existenz der kleinen Insel südwestlich von Sizilien. Selbst auf der Landkarte im Schulzimmer von Lampedusa waren die pelagischen Inseln nicht eingezeichnet. «Wenn wir unsere Lehrerin gefragt haben, wo Lampedusa liegt, zeigte sie auf einen Fleck auf der Wand, unterhalb der Karte», erinnert sich Sferlazzo.
Er war 12 Jahre alt, als die ersten Boote aus Tunesien ankamen. Er weiss noch, wie die Ankömmlinge als erstes fragten, wo der Bahnhof sei. Sie dachten, sie seien auf dem italienischen Festland angekommen, oder zumindest auf Sizilien. Keiner der Bewohner wusste etwas mit den unerwarteten Gästen anzufangen. Einrichtungen für Migranten gab es keine. «Manche legten etwas Geld zusammen», entsinnt sich Sferlazzo. «Sie kauften ihnen Billets für die Überfahrt nach Sizilien. Einfach und unbürokratisch.»
Militärische Aufrüstung
Die Insel entwickelte sich nach der Jahrtausendwende zum wichtigsten Knotenpunkt für Migranten aus Afrika, dem nahen Osten und Asien. Lampedusa wurde je länger je mehr militärisch aufgerüstet. «Heute gibt es auf der Insel zwei Luftwaffenstützpunkte, zwei Standpunkte der Guardia di Finanza, zwei Stationen der Küstenwache, zwei Radare, drei Helikopter, drei grosse Militär-Schiffe und mindestens zehn kleinere Schiffe der Polizei», erzählt Sferlazzo. Einer Bevölkerung von knapp 6000 Personen stünden heute mindestens 1000 Sicherheitskräfte gegenüber.
Die Militarisierung stört Sferlazzo sichtlich. Die Menschenrechte würden ins Feld geführt, um das militärische System zu rechtfertigen, sagt er. «Kriege sind einer der häufigsten Gründe für Migration. Und Europa ist immer Teil dieser Konflikte. Entweder direkt oder indirekt, beispielsweise indem sie Waffen produzieren und verkaufen.» Wäre Giacomo Sferlazzo Bürgermeister, würde er die mediale Aufmerksamkeit auf die Ursachen der Migration lenken. «Und dann würde ich das Ausschaffungszentrum verbrennen», sagt er. «Alle diese Zentren in Italien sind Gefängnisse».
Zu extreme Ansichten
Für ein politisches Engagement in Lampedusa seien seine Ansichten zu extrem, wurde ihm einst nahegelegt, als er sich für einen Posten im Gemeinderat interessierte. Doch Sferlazzo engagiert sich unbeirrt weiter. 2009 gründete er das Kollektiv «Askavusa» (sizilianisch für «barfuss»). Die Mitglieder des Kollektivs suchen den Dialog mit den Migranten und organisieren Demonstrationen, um auf deren Anliegen aufmerksam zu machen.
Gemeinsam mit seinen Mitstreitern von «Askavusa» barg Sferlazzo verschiedenste Objekte aus den gekenterten und gestrandeten Flüchtlingsbooten. Es waren Schuhe darunter, Schwimmwesten, Zigaretten, Lebensmittel, Gewürze, Bibeln und Korane. «Alles mögliche», sagt Sferlazzo. Das Kollektiv hat auf Lampedusa einen Ausstellungsraum eingerichtet, in dem die Fundstücke zu sehen sind.
Das Ausmass der Tragödie
Die
gesammelten Fundstücke des Kollektivs «Askavusa» sollen kommenden
Generationen das Ausmass der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer vor Augen
führen. Denn die Migration nach Europa ist generell schlecht
dokumentiert. «Die Objekte, die auf den Schiffen zurückgelassen wurden,
waren vom Staat zur Zerstörung vorgesehen, weil sie als Abfall angesehen
wurden», sagt der Aktivist Giacomo Sferlazzo.
Auch die Anzahl Todesfälle und Vermisstmeldungen unter den Migranten nach Europa wird von offizieller Seite nicht dokumentiert. Weder die europäische Grenzschutzbehörde Frontex, noch die Grenzsicherungsagentur Eurosur kann hierzu Zahlen vorweisen. Eine Arbeitsgruppe europäischer Journalisten unter Beteiligung der NZZ hat unter www.themigrantsfiles.com einen umfassenden Datensatz zu den Todesfällen und Vermisstmeldungen zusammengestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Demnach haben seit der Jahrtausendwende rund 23 000 Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren.
Auch die Anzahl Todesfälle und Vermisstmeldungen unter den Migranten nach Europa wird von offizieller Seite nicht dokumentiert. Weder die europäische Grenzschutzbehörde Frontex, noch die Grenzsicherungsagentur Eurosur kann hierzu Zahlen vorweisen. Eine Arbeitsgruppe europäischer Journalisten unter Beteiligung der NZZ hat unter www.themigrantsfiles.com einen umfassenden Datensatz zu den Todesfällen und Vermisstmeldungen zusammengestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Demnach haben seit der Jahrtausendwende rund 23 000 Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren.